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Der Mut des Erfolglosen

Alexander II.

Reformer, Reaktionär, Opfer: Zar Alexander II. verordnete Russland den Anschluss an die Moderne. Dankbar waren ihm dafür nur wenige. Am Ende kosteten ihn seine Reformbestrebungen sogar sein Leben.

Jean-Baptiste Carpeaux, Berezewskis Attentat auf Alexander II.

Zar Alexander II. provozierte mit seinen Reformen mehrere Attentate. Hier das des Polen Berezewski auf der Pariser Weltausstellung 1867, gemalt von Jean-Baptiste Carpeaux (1827-1875). | © Wikimedia Commons, Rama, CC BY-SA 2.0 FR

Es ist noch Winter in St. Petersburg, als der Zar zum letzten Mal Mut beweist. Stur und entschlossen wie stets, scheint der 62-Jährige bis zuletzt den Worten des Vaters zu folgen: „Zeige dich dort mutig, wo es nötig ist, und du wirst Russland retten“, hatte Nikolaus I. 1835 geschrieben. Und sein Sohn, seit 1855 Zar Alexander II., hat es versucht. Mutig hat er sein schweres Erbe angetreten, hat viel gewagt und viel gewonnen. Seine rückständige Heimat führte er in die Moderne, doch dankbar sind ihm wenige. Die Lebensleistung wird zum Verhängnis, denn der Widerstand ist permanent und Alexander trotzt ihm nicht immer klug. So auch am 13. März 1881.

Als ihn die erste Bombe verfehlt, stellt der Zar seinen Attentäter mutig zur Rede – ein Fehler, der ihn sein Leben kostet. Dass dieses Leben Mut erfordert, zeigt sich früh. Denn die Aufgabe, die Alexander aus dem Hause Romanow-Holstein-Gottorp als Erbe des Vaters übernimmt, ist gewaltig. Russland, das Zarenreich zwischen Schwarzem Meer, Ostsee und Pazifik, ist zwar groß, aber nicht auf der Höhe der Zeit. Es steckt im verlustreichen Krimkrieg, als Alexander am 2. März 1855 den Thron besteigt. Der russische Kriegstraum, dem „kranken Mann am Bosporus“ Macht abzutrotzen, zerplatzt an der Allianz Frankreichs und Großbritanniens mit den Türken. Vor allem, als die russische Festung Sewastopol auf der Krim nach einjähriger Belagerung am 8. September 1855 fällt.

Alexander erkannte, dass Russland Reformen brauchte

Am 11. April 1856 schließt der junge Zar den Pariser Frieden – ein schlechter Auftakt, die Untertanen schmähen den „Schandfrieden“. Aus Russland, dem stolzen Napoleon-Bezwinger, wird ein Kriegsverlierer, die Dominanz in Europa leidet, die Expansion auf dem Balkan scheitert. Und Alexander erkennt, warum sein Land unterlag. Es hängt hinterher, strukturell, wirtschaftlich, gesellschaftlich. Russland hat den Krieg mit einem Heer höriger Bauern verloren, der Nachschub stockt, zur Tilgung der horrenden Kriegskosten fehlt die große Industrie. Russland ist auf Anleihen im Ausland angewiesen, rückständig, abhängig. Der Zar des Agrarstaats sieht nur einen Ausweg: Reformen.

Der humanistisch gebildete Sohn einer Preußin, geboren am 29. April 1818 in Moskau, nimmt sich, wie Vorfahr Peter der Große, den Westen zum Vorbild. Er will Russland den Anschluss an die Moderne verpassen, in Eigenregie. Die Zaren sind Autokraten, Erneuerung gibt es für sie nur von oben. „Sie werden verstehen, dass das jetzige System nicht unverändert bleiben kann“, erklärt Alexander seinen Adligen und beginnt, das Land auf den Kopf zu stellen. Um „partielle Liberalisierungen“ geht es dem Monarchen nicht, schreibt Biograf Heinz-Dietrich Löwe. „Sondern um einen grundlegenden Systemwandel.“

Der Zar legte den Grundstein für die Revolution von unten

Alexander, der Mutige, befasst sich nicht gern mit Kleinigkeiten, bei Widerstand bleibt er stur. Mit seinem Kurs aus Reform und Reaktion legt er den Grundstein für die spätere Revolution von unten. Und für das Ende der Zaren. Doch jenes ist noch fern, als der Reformzar 1856 loslegt. Er beseitigt zunächst die Scherben des Vaters und verkündet eine Amnestie für politische Häftlinge wie die Dekabristen, die Nikolaus nach Sibirien verbannt hatte. Alexander lockert die Zensur, kommuniziert seine Reformpläne fortan gar in der Presse. Dort wirbt er dann auch für das Ende der Leibeigenschaft, die erste große Reform. Vom entsetzten Adel verlangt er Einsicht: „Es ist besser, das System leibeigener Seelen von oben abzuschaffen, als auf den Augenblick zu warten, in dem es von unten abgeschafft wird.“ Jahrelang wird um das Projekt gerungen, bis Alexander die Geduld verliert. „Ich wünsche und befehle, dass alles bis zum 15. Februar abgeschlossen ist“, tobt er 1861. Wenig später ist sein Wunsch Gesetz.

Die Bauern werden frei und bekommen Land. Per Gesetz müssen sie es von den vormaligen Gutsbesitzern kaufen. Klauseln höhlen die Reform aus, so etwa mit der möglichen Übertragung eines „Bettelanteils“, der Bauern kostenlos Land gibt, aber viel weniger, als ihnen nun gesetzlich zusteht. Dennoch: Der Reformer ist zufrieden. Und die liberale Intelligenz jubelt, vor allem im Westen, wie etwa Karl Marx. Alexander fährt fort: Seine Justizreform 1864 bringt die ersten Anwälte und unabhängigen Richter, die Bildungs- und Verwaltungsreform 1863/1864 und die Förderung der Industrialisierung machen sein Land effizienter und ungewollt demokratischer. Von einer Verfassung will der Zar indes nichts hören. Das Recht zu regieren sieht er „ausschließlich bei mir“. Alexanders Liberalität ist halbgar, klagen Gegner, zu denen neben den Adligen zusehends auch Studenten und Intellektuelle zählen. Mit Kritik kann Alexander schlecht umgehen. Den polnischen Aufstand 1863 lässt er niederschlagen, nach dem ersten Attentat durch den Studenten Dimitri Karakozow 1866 greift der Zar wieder zu Zensur und Polizeistaat.

Auch privat hatte es Zar Alexander nicht leicht

Die 1860er-Jahre meinen es auch privat nicht gut mit Alexander. Thronfolger Nikolaj stirbt, die Ehe des Zaren mit Maria Alexandrowna (Marie von Hessen-Darmstadt) zerbricht nach fast 25 Jahren. Außenpolitisch kann der Chef der Armee, die er nach preußischem Vorbild und der Einführung der Wehrpflicht 1874 modernisiert, kaum klagen. Seine Generäle erobern große Gebiete in Zentralasien, am Amur-Bogen und am Japanischen Meer. Auch im Kaukasus gelingt die Expansion. Eine Stadtgründung macht schon 1860 Alexanders Kurs deutlich: Wladiwostok heißt „Beherrsche den Osten“. Der Traum vom panslawischen Weltreich entsteht, Alexander regiert das größte Russland aller Zeiten. Und er ist der meistbedrohte Zar aller Zeiten.

1867 trachten ihm Rebellen wieder nach dem Leben, noch gefährlicher lebt er nach dem Desaster des Türkisch-Russischen Kriegs 1877. Der Zar gewinnt den neuen Krieg auf dem Balkan zwar, aber Europas Diplomatie entschärft sein Friedensdiktat auf dem Berliner Kongress 1878. Alexander protestiert, unter anderem in einer scharfen Note an seinen deutsch-kaiserlichen Onkel Wilhelm I., aber der „Ohrfeigenbrief“ hat keinen Erfolg. Vielmehr lässt der erneute Prestigeverlust die Gegner des Zaren mobil machen. „Was tun?“, fragt die Intelligenzija, wie etwa Schriftsteller Nikolaj Tschernyschewskij in einem Roman. Seine Ideen für ein neues Russland prägen sozialrevolutionäre Gruppen wie die Narodniki (Volkstümler) und später gar Lenin, der seinem Hauptwerk 1902 den gleichen Titel gab. Ende der 1870er wird deren Widerstand brutaler. Im Untergrund ruft die radikale Narodnaja Wolja (Volkswille) zum Umsturz auf.

Mehrere Attentate überlebte er, sein Mut kostete ihn das Leben

In einer Spirale aus Terror und Repression steht der Zar 1879 gleich zweimal im Fadenkreuz: Im April soll er durch Schüsse sterben, im Dezember durch Sprengstoff. Eine Bombe explodiert auch 1880 im Petersburger Winterpalast. Alexander überlebt stets, was seinen bisweilen naiven Mut bestärkt. Das rächt sich, als seine Kutsche am 13. März 1881 von einer Dose Dynamit erschüttert wird. Geworfen hat sie der Student Nikolaj Ryssakow, Mitglied des Untergrunds.

Als er gefasst wird, will es sein Opfer genau wissen. Statt zu fliehen, kümmert sich der Zar um die Verwundeten – und fragt den Attentäter nach dem Grund für den Anschlag. Eine Antwort bekommt er nicht, weil eine zweite Bombe explodiert. Schwer verletzt stirbt er kurz darauf im Palast. Der Zar, der angetreten war, Russland zu befreien, kommt nicht ans Ziel. Der liberale Reaktionär scheitert – zuletzt am Volkswillen.

Frauke Scholl

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 12/2012 „Die Zaren“

Zuletzt geändert: 07.03.2019