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Forscher mit Leidenschaft

Alexander von Humboldt vermisst die Welt

Selten hat sich ein Forscher mit so viel Leidenschaft in seine Arbeit gestürzt wie Alexander von Humboldt. Seine Südamerika-Expedition ebnete den Weg für die „zweite Entdeckung“ Amerikas: die wissenschaftliche Erfassung der Schätze der „Neuen Welt“.

Alexander von Humboldt

Er begegnete fremden Völkern mit Respekt und betrieb Feldforschung ohne Rücksicht auf seinen eigenen Komfort: Alexander Von Humboldt | © istockphoto.com/traveler1116

„Welch ein Glück ist mir eröffnet! Mir schwindelt der Kopf vor Freude. Ich gehe ab mit der spanischen Fregatte Pizarro“, jubilierte Alexander von Humboldt 1799 kurz vor der Abfahrt zu seiner lang ersehnten Südamerika-Expedition. Er stand vor der Erfüllung seines Lebenstraums: Neues erforschen, das Wunder der Natur enträtseln, Nie-Gesehenes beschreiben. Davon hatte der preußische Aristokratensohn schon seit seiner Jugend geträumt.

Aus dem Staunen kam Alexander von Humboldt seit seiner Landung in Cumaná im heutigen Venezuela am 16. Juli 1799 dann auch erwartungsgemäß gar nicht mehr heraus. „Wie die Narren laufen wir bis jetzt umher. In den ersten drei Tagen konnten wir nichts bestimmen, weil man immer einen Gegenstand wegwirft, um einen anderen zu ergreifen“, berichtete er seinem Bruder Wilhelm nach Hause. „Wunderbare Pflanzen, Zitteraale, Tiger, Armadölle, Affen, Papageien … Welche Bäume! Kokospalmen, 50 bis 60 Fuß hoch.“ Von diesem Moment an war es um Humboldt geschehen: Die Tropenwelt hatte ihn fest im Griff.

Humboldt ging es nie um Profit oder Macht

Nie strebte er dabei nach persönlicher Bereicherung. Nie ging es ihm um die Ausbeutung von Bodenschätzen oder die Eroberung eines Landstrichs zu Gunsten irgendeiner Kolonialmacht, sondern immer nur um höhere Erkenntnis, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, ein faustisches Suchen nach den Ursachen und Wechselbeziehungen des Lebens. Ein Idealist auf Reisen, der sich nie auf eine Einzeldisziplin spezialisierte, sondern seinen Ehrgeiz auf viele Wissenschaftsgebiete richtete: Geologie, Botanik, Zoologie, Meteorologie, Elektrophysiologie, Kosmologie, auch Philosophie und Archäologie zählten zu seinen Leidenschaften.

Das unablässige Staunen über die Wunder der Natur ließen ihn, dessen Lebensspanne stattliche neun Jahrzehnte umfasste, bis zum letzten Atemzug nicht mehr ruhen und ein umfangreiches wissenschaftliches Werk erarbeiten. „Der Augenblick, da man zum ersten Mal von Europa scheidet, hat etwas Ergreifendes“, vertraute Humboldt seinem Reisetagebuch an, als er am Abend des 5. Juni 1799 nach Jahren des Hoffens, Sehnens und Strebens endlich zu seiner großen Fahrt aufbrach.

Seine Kindheit empfand er als langweilig

Lange hatte er auf diesen Moment gewartet. Seine Kindheit und Jugend war ihm in der Rückschau stets als trüb und öde erschienen. Er sei ein „gemisshandeltes Kind“ gewesen, stellte er fest. Trotz exzellenter Erzieher, die er im Privatunterricht an der Seite seines zwei Jahre älteren Bruders Wilhelm auf Schloss Tegel genoss – „Schloss Langweil“, wie er es nannte –, war er nie auf seine Kosten gekommen. Die theoretische Wissensaneignung am heimischen Schreibtisch lag ihm nicht, ihn drängte es nach draußen, zur unmittelbaren Anschauung der Natur und zum Experiment, doch keiner verstand ihn.

Um ein Haar hätte er die Brocken hingeworfen, damals 1790, als er in Begleitung des berühmten Georg Forster, der an der Weltumsegelung Kapitän James Cooks teilgenommen hatte, nach Großbritannien reiste. Die Verlockung, zur britischen Marine zu gehen, um dem tristen Berliner Alltagsleben zu entkommen, übermannte den 21-Jährigen fast, die „Sehnsucht nach der Tropenwelt“ schien ihn zu überwältigen.

Für Humboldt war die Wissenschaft ein wahrgewordener Traum

Doch ein bloßer Weltenbummler wollte Alexander von Humboldt nicht werden, sein Ehrgeiz trieb ihn zu Höherem, zu einer Forschungsreise mit wissenschaftlichem Anspruch. Das Erbe seiner Mutter, die 1796 starb, ermöglichte ihm die Verwirklichung seines Traums. So blickte an Bord der „Pizarro“ kein abenteuerlustiger Bruder Leichtfuß in den unendlichen Sternenhimmel des Südens, sondern ein ausgezeichnet vorbereiteter Naturwissenschaftler.

Seine Lieblingsfächer Geologie und Mineralogie hatte er als Oberbergmeister in preußischen Diensten von der Pike auf gelernt. Als treuer Wegbegleiter stand ihm der Arzt und exzellente Botaniker Aimé Bonpland zur Verfügung und nicht zuletzt führte Humboldt einen wahren Schatz an modernsten Vermessungsinstrumenten mit sich: Sextanten, Chronometer, Teleskope, Hygrometer, Inklinationsbussolen, Mikroskope – alles auf eigene Kosten angeschafft. Meisterhaft beherrschte Humboldt physikalische und chemische Messtechniken, die mathematischen Grundlagen zu deren Auswertung, sowie das Präparieren und Sezieren.

Schon an Bord legte Humboldt los

Die Vermessung der Welt begann schon an Bord mit der Untersuchung von Temperatur und Strömung des Meerwassers, mit dem Studium der Quallen und der Beobachtung der Gestirne. Während eines Zwischenstopps auf den Kanarischen Inseln konnte er durch die Besteigung des Pico del Teide auf Teneriffa schon die verschiedenen Vegetationszonen studieren, die „wie Stockwerke übereinander liegen“ und sich nach Temperatur, Sauerstoffgehalt und Feuchtigkeit der Luft richteten.

Doch so richtig kam Humboldt erst in Fahrt, als er die heiß ersehnte Küste der Neuen Welt erblickte, und er war sich sofort sicher: „Ich fühle, dass ich hier sehr glücklich sein werde“. Sein Glück bestand zunächst im Aushalten zahlreicher Strapazen. Seine erste Expedition führte Humboldt nach einem mehrmonatigen Aufenthalt in Cumaná von Caracas ins vielfältig verzweigte Orinoco-Flussgebiet, das er auf dem Wasserweg erkundete und von dem er erst sieben Monate später wieder zurückkehrte.

„Ungeziefer zum Weinen“: Humboldt in Südamerika

Nach einem Zwischenaufenthalt auf Kuba wagte er 1801 vom kolumbianischen Cartagena aus einen Vorstoß ins Andengebiet, den er 1802 in Lima beendete. Auf einer dritten Fahrt bereiste er Mexiko und die nordamerikanische Ostküste. Was Humboldt sich und seinen Gefährten, zu denen neben dem vier Jahre jüngeren Franzosen Bonpland der indianische Führer Carlos del Pino und der Mulatte Jose de la Cruz sowie diverse lokale Begleiter zählten, zumutete, wäre selbst für moderne Hochleistungssportler eine Herausforderung gewesen: Er durchquerte das trocken-heiße Grasland der Llanos südlich von Caracas, um zum Orinoco vorzustoßen, schipperte mit einer Piroge, einem etwa zwölf Meter langen Einbaum, den Apure und den Rio Negro hinab, überquerte die Anden in einem wahren Gewaltmarsch und bestieg den Vulkankegel des etwa 6300 Meter hohen Chimborazo bis zu einer damals unerreichten Höhe von über 5600 Metern und erlebte dabei die Auswirkungen der Höhenkrankheit.

Tropische Regenfälle, Myriaden von Mücken, klirrende Kälte und dünne Luft in den Anden machten ihnen schwer zu schaffen. „Ungeziefer zum Weinen“, notierte Humboldt auf seiner Flussfahrt durch das Orinocogebiet, „Überreizung der Oberhaut, Schweiß, Erhitzung des Blutes – welch eine Lage! Man glaubt, alle Sekunden die Instrumente fallen zu lassen, wenn alle Hände voll stechender Insekten sind und man keine dritte Hand hat, sich ihrer zu erwehren.“ Krokodile und Zitteraale, Piranhas und Parasiten gehörten bald zu den alltäglichen Plagen.

3600 neue Arten, Tausende Messdaten

Doch Selbstmitleid zählte nicht zu Humboldts Eigenschaften. „Keine Lage könnte zum Studieren und zum Untersuchen vorteilhafter sein als diejenige, in der ich mich wirklich befinde“, schrieb er seinem Bruder Wilhelm. „Vorteilhaft“ kann man Humboldts Reise-Erträge nur nennen, wenn man das gepflegte Understatement übt. Denn was er an wissenschaftlichen Erkenntnissen zusammentrug, hatte es in sich: Seine Fahrt auf dem Orinoco und dem Rio Negro bewies, dass die Flusssysteme des Orinoco und des Amazonas über den Rio Casiquiare zusammenhingen, was damals niemand für möglich gehalten hatte. Sein zweiter Vorstoß in die Andenwelt bewies den vulkanischen Ursprung diverser Gesteinsarten wie des Basalts, die bislang als Unterwassersedimente gegolten hatten, und der Blick zu den Sternen gab Aufschluss über die Gesetzmäßigkeit von Meteorschauern. Dazu eine Fülle an gesammelten und in 3600 neue Arten klassifizierten Pflanzen und Tieren, Tausende Messdaten, Höhenprofile und Kartenzeichnungen.

Die Auswertung beschäftigte ihn 30 Jahre

Kistenweise schickte Humboldt seine aufgelesenen Gesteinsproben, die gepressten Reste von rund 60 000 Pflanzen sowie unzählige Tierzeichnungen zurück. Die Auswertung des gesamten Materials beschäftigte ihn nach seiner Rückkehr 1804 weitere 30 Jahre und füllte insgesamt 34 Bände. Die Kosten für den Druck und die Bebilderung des Textes mithilfe von Zeichnungen und rund 10 000 Kupferplatten bezahlte er aus eigener Tasche, ebenso die Honorare seiner wissenschaftlichen Mitarbeiter. Es brachte ihn an den Rand des finanziellen Ruins.

Einheimischen begegnete Humboldt mit Respekt

Doch über allem Studieren, Zeichnen, Messen und Berechnen vergaß er nie den Menschen. Den einheimischen Völkern, denen er auf seinen Reisen begegnete, brachte Humboldt höchstmöglichen Respekt entgegen. Die Indianer nannte er eine „sehr schöne und interessante Menschenrasse“ und berichtete viele Details aus ihrem Leben — vorurteilsfrei und ohne die koloniale Brille. „In den Wäldern Südamerikas gibt es Eingeborenenstämme, die unter Häuptlingen friedlich in Dörfern leben, auf ziemlich ausgedehntem Gebiet Bananen, Maniok und Baumwolle anbauen und aus dieser Baumwolle ihre Hängematten weben. Sie sind um nichts barbarischer als die nackten Indianer in den Missionen, die man das Kreuz schlagen lehrte. Man macht sich ganz falsche Vorstellungen vom Zustand der Völker in Südamerika“, stellte er fest.

Die Versklavung der Indianervölker und der Schwarzafrikaner lehnte Humboldt als Anhänger der Aufklärung, der an die Verwirklichung der Menschenrechte glaubte, vehement ab. „Ohne Zweifel ist die Sklaverei das größte aller Übel, welche die Menschheit gepeinigt haben“, schrieb er. Er geißelte, so oft er konnte, die Überheblichkeit der Kolonialherren, und kämpfte bis zum letzten Atemzug für die Abschaffung der Sklaverei.

Zu seinem eigenen Freundeskreis zählte er eine bunt gemischte Gesellschaft aus allen ethnischen Gruppen. Humboldt zeigte keine Scheu, Samba zu tanzen, die lauen Nächte zusammen mit Indios am Ufer des Rio Manzanares zu verbringen oder sich von indianischen Heilerinnen gegen Parasiten behandeln zu lassen. Bereitwillig stellte er seine technischen Geräte zur Verfügung, wenn ein interessiertes Publikum danach verlangte. Damen entdeckten so mithilfe des Mikroskops ihre Flöhe in Haaren und Gewändern, wissbegierige junge Herren warfen erstmals durch ein Fernrohr einen Blick zum Sternenhimmel, Indianer staunten über die Wirkung der Zitronensäure auf Muschelkalk.

Humboldt wollte Wissen für alle zugänglich machen

Vorbehaltlos trat Humboldt für eine Demokratisierung des Wissens ein. Seine Werke schrieb er in klarer Sprache und in Berlin hielt er öffentliche Vorlesungen, die vom Ladenmädchen bis zum Bäckermeister alle Schichten begeisterten. Für Humboldt war Wissenschaft kein Selbstzweck. Er hoffte, das „Große und Gute“ zu finden und das Menschengeschlecht über neue Erkenntnisse zu „veredeln“. Begeisterung für die Wissenschaft zu wecken, interdisziplinär zu arbeiten und vorurteilsfrei Neuem zu begegnen – das hinterließ Humboldt neben seiner Fülle an Zeichnungen und Messdaten der Nachwelt als Erbe.

Karin Schneider-Ferber

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 7/2013 „Aufbruch ins Unbekannte: Die großen Expeditionen“

Zuletzt geändert: 18.05.2017