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Das Juwel in der Krone

Britisch-Indien 1858 bis 1901

In Britisch-Indien war die „Bürde des weißen Mannes“ zuweilen eine leichte Last: Wer zur politischen oder militärischen Elite zählte, lebte ein glamouröses Leben auf Kosten der Inder.

Sepoyaufstand in Indien

Britisch-Indien wehrt sich gegen die Herrschaft der East India Company: Der indische Fürst Nana Sahib beteiligt sich am sogenannten Sepoyaufstand von 1857. | © istockphoto.com/duncan1890

Blut färbte den Boden des Hauses in Britisch-Indien rot. Da sich seine Truppen geweigert hatten, auf die wehrlosen Frauen zu schießen, hatte Nana Sahib kurzerhand die Metzger aus dem Fleischbasar rufen lassen. Mit Äxten, Säbeln und Messern töteten sie 200 englische Frauen und Kinder. Ihre Leichen warf man in einen Brunnen, bis dieser vollkommen verstopft war. Das Massaker von Kanpur (Cawnpore) vom 16. Juli 1857 war eine der schlimmste Gräueltaten des sogenannten Sepoyaufstands. Es begann damit, dass sogenannte Sepoy, bengalische Söldner der East India Company, am 7. Mai 1857 in Merath meuterten. Der Funke löste einen Flächenbrand aus. Immer mehr Regimenter meuterten und mehrere indische Fürsten – darunter Nana Sahib von Kanpur – schlossen sich der Rebellion gegen die Briten an. Die Tage der britischen Herrschaft über Indien schienen gezählt. Aber die Aktionen der Rebellen waren schlecht koordiniert. Zudem unterstützten einige mächtige Maharadschas weiterhin die Briten. Mit frischen Truppen aus Großbritannien und loyalen Sepoy-Regimentern aus Südindien kam dann der unbarmherzige Gegenschlag.

Wer von den Rebellen die Kämpfe überlebte und in Gefangenschaft geriet, konnte mit dem Tod rechnen. Sie wurden erhängt und vor Kanonen gebunden, die dann abgefeuert wurden. Ein Jahr nach dem Vorfall von Merath war Indien wieder „befriedet“. Der Aufstand setzte einen Schlussstrich unter die 350-jährige Geschichte der East India Company. Mit dem Government of India Act von 1858 verlor die Handelsgesellschaft, die bis dato weite Teile des Subkontinents beherrscht hatte und eigene Armeen ins Feld schickte, alle Privilegien. Indien wurde Kronkolonie, die Regimenter der Company zur Indian Army und im Namen Königin Victorias regierte nun anstelle eines Generalgouverneurs ein Vizekönig das Land. Die Tage des Raj (Herrschaft) der britischen Kolonialherrschaft waren angebrochen.

Britisch-Indien bot Karrierechancen für die englische Mittelklasse

Das Reich des Raj war zweigeteilt. Provinzen wie Bengalen, Bombay oder Madras standen unter der direkten britischen Verwaltung eines Gouverneurs. Daneben existierten 21 halbsouveräne Fürstentümer, die von einem Maharadscha oder einem Nizam regiert wurden. Die Herrscher dieser Vasallenstaaten konnten sich bequem in der Vorstellung einrichten, nach wie vor Herren im eigenen Haus zu sein. Sie verfügten über oft enorme Finanzmittel, befehligten eigene kleine Armeen und hatten die Rechtsprechung in der Hand. Doch sie herrschten immer „auf Bewährung“. Ein politischer Agent des Empire kontrollierte ihre Aktionen und stellte sicher, dass sie treue Untertanen der Königin blieben und ihre Exzesse nicht übertrieben. Während im Königreich die Korridore der Macht größtenteils von Absolventen der Eliteuniversitäten Oxford und Cambridge bevölkert wurden, bot der Indian Civil Service (ICS) den Söhnen des englischen Mittelstands eine Karrierechance. Junge Männer unter 30 verwalteten in Indien Distrikte von 5000 Quadratkilometern und mehreren Millionen Einwohnern. Erst 1870 schaffte es der erste Inder in den exklusiven ICS – ein Intellektueller aus Bengalen, Verwandter des späteren Nobelpreisträgers Rabindranath Tagore.

Das wichtigste Instrument zur Kontrolle Indiens aber blieb die Armee. Als Folge des Sepoyaufstands ruhte nun die Verteidigung Indiens auf zwei Säulen. Zum einen rein britische Einheiten, die in einem rotierenden System für einige Jahre in Indien stationiert wurden, zum anderen die Streitkräfte der Indian Army, deren Mannschaften von sogenannten „Martial Races“ (Kriegervölker) gestellt wurden. Diese Aufteilung der Völker Indiens war eine weitere Reaktion auf die Ereignisse von 1857. Wer wie Sikhs, Rajputen oder Gurkhas loyal an der Seite der Briten gekämpft hatte, der galt weiterhin als Material für die Armee. Das Offizierskorps der Indian Army stellten ursprünglich nur Briten, erst nach dem Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg (1878 – 1880) wurden auch Stellen für einheimische Offiziere geschaffen.

Die Viktorianer exportierten ihre strengen Sitten nach Indien

Ein Großteil der Streitkräfte war im Nordwesten des Subkontinents stationiert, um die afghanischen Stämme zu kontrollieren und einer russischen Invasion vorzubeugen. Aufgrund des mörderischen Klimas begann der reguläre Dienst lange vor Sonnenaufgang und endete am frühen Nachmittag. Dann folgte eine üppige Mahlzeit zwischen Frühstück und Mittagessen, der Brunch. Neben Jagd, Polo, Glücksspiel und Gin Tonic zählte vor allem Snooker zu den beliebten Freizeitbeschäftigungen der Offiziere: eine Variante des Billardspiels, deren Regeln bis heute vom Ehrenkodex der indischen Militärkasinos geprägt sind. In den sexuell liberalen Tagen des 18. Jahrhunderts lebten viele Offiziere und Beamte der Ostindischen Kompanie mit indischen Frauen zusammen. Wer es sich leisten konnte, hielt sich sogar in orientalischer Tradition einen Harem. Die strenge viktorianische Moral und die Vorstellung von der Minderwertigkeit der „dunklen Rassen“ setzte einen Schlussstrich darunter: Die Folge war ein akuter Frauenmangel. Regelmäßig wie der Monsun lief deshalb mit dem Anbruch der kühlen Jahreszeit die „Fishing Fleet“ in die indischen Häfen ein: Passagierschiffe beladen mit Frauen aus England auf der Jagd nach einer guten Partie.

Frauen, die ihren „Fang“ machten, stiegen zur Memsahib auf und erhielten das Kommando über eine ganze Brigade von Dienern und Dienerinnen: Koch, Kinderfrau, Zimmermädchen, Torwächter, Gärtner, Stallbursche und ganz unten in der Hierarchie die Diener fürs Reinigen des Hauses und der Wäsche – zumeist Mitglieder der Kaste der Unberührbaren. Die meisten Engländerinnen waren in einem Korsett von Vorurteilen eingeschnürt. Inder waren für sie Diener, die man misstrauisch kontrollieren musste, oder Händler, die einen übervorteilen wollten. Als den Briten gleichwertig galten ihnen höchsten die Maharadschas – aber wer hatte schon soziale Kontakte zu Fürsten? Also blieb man unter sich. Durch fast alle Städte Anglo-Indiens führte eine unsichtbare Grenze, die den Bereich der Europäer von den Indern trennte. Ausflüge in diese fremde, faszinierende Welt des Orients galten für Frauen als unschicklich.

Zerschlagene Fabriken: Die Briten beuten Indien aus

Der soziale Mittelpunkt der britischen Gemeinschaft bildete der Club. „Wenn man nicht zum Club gehörte, war man ein Ausgestoßener“, notiert ein Brite um 1900. Zugang zur Bar im Club hatten nur Männer. Für Frauen gab es einen separaten Bereich, das „moorghi khana“ – Hühnerhaus. War der Club wirklich „pukka“ – also erstklassig –, verkehrte hier nur die Elite. Für Krämer, Handwerker oder Nachkommen aus englisch-indischen Beziehungen war hier kein Platz. Als mit der Industrialisierung und dem Eisenbahnbau immer mehr Ingenieure, viele von ihnen Schotten, nach Indien kamen, wurde in vielen Clubs diskutiert, ob man diese Männer aufnehmen sollte: Zwar hatten sie studiert, aber machten sie sich nicht die Hände bei der Arbeit schmutzig? Schließlich öffneten sich die Clubs diesen Männern. Die industrielle Revolution veränderte auch Indien radikal. Um 1900 überzog ein Eisenbahnnetz von über 15 000 Kilometern das Land und Bahnhöfe wie die Victoria-Station in Bombay konkurrierten an Pracht mit dem Tadsch Mahal.

Bis heute profitiert Indien von der Infrastruktur, doch die Briten zerstörten auch gewachsene Strukturen. Die indischen Textilmanufakturen, die einst mit ihren bedruckten Baumwollstoffen (Chintz) einen in ganz Europa begehrten Exportschlager fertigten, zerschlugen sie. Nun produzierten die Textilfabriken in Manchester auch für den indischen Markt. Stattdessen lieferte Indien nun unverarbeitete Baumwolle für den Weltmarkt. In den Jahren 1863 bis 1865 – in den USA herrschte Bürgerkrieg und Baumwolle war Mangelware – selbst für die Kleinbauern ein so lukratives Geschäft, dass viele sich zum ersten Mal von der Schuldknechtschaft freikaufen konnten. Die Schuldknechtschaft war eines der vielen Probleme, die belegten, dass die britische Verwaltung ihre Mängel hatte. Aus diesem Grund forderte Allan Hume, ein Mitarbeiter des ICS, dass „die wahre Arbeit an der Zukunft des Landes“ wieder in die Hände der Inder gelegt werden müsse. Auf Humes Initiative kam es 1885 zur Gründung der Indischen Kongresspartei, die unter Gandhi das Land in die Unabhängigkeit führen würde.

Rudyard Kipling machte Britisch-Indien unsterblich

Im Gründungsjahr der Kongresspartei bereiste ein junger Reporter für die „Civil and Military Gazette“ das Land – Rudyard Kipling. Seine Erzählungen machten die Ära des Raj unsterblich. Und wenn sie auch imperialistisch angehaucht sind, sprechen sie doch stets von Kiplings tiefer Liebe zu Indien und seinen Menschen: „Hier finde ich Hitze und Gerüche, Öle und Gewürze, den Weihrauch der Tempel, Schweiß, Dunkelheit und Dreck, Wollust und Grausamkeit, aber vor allem wunderbare und faszinierende Eindrücke ohne Zahl.“

Klaus Hillingmeier

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 8/2013 „Victorias Empire“

Zuletzt geändert: 18.05.2017