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Das Zeitalter der Seewölfe

Die Expansion der Wikinger

Dreihundert Jahre lang wurde Europa von den Wikingern terrorisiert. Länderkomplexe wie das Frankenreich und hochentwickelte Kulturen wie die der Mauren hatten ihnen wenig entgegenzusetzen.

Kloster Lindisfarne

Das englische Kloster Lindisfarne wurde im Jahr 793 von Wikingern überfallen: eine Tat, die Schrecken in ganz Europa verbreitete. | © istockphoto/Gannet77

 

Zuerst waren sie nur ein Punkt am Horizont. Das allein war schon beunruhigend. Denn am Horizont hatten keine Punkte zu sein. So weit draußen fuhren keine Schiffe. Es mussten aber Schiffe sein, nach einiger Zeit konnte man Segel erkennen. Schiffe auf offener See – davon hatten die gelehrten Mönche noch nie gehört. Schiffe bewegten sich ausschließlich dicht unter der Küste von Hafen zu Hafen. Zudem näherten sich diese hier mit dämonischer Geschwindigkeit, sie schossen geradezu heran. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Bald waren Einzelheiten auszumachen: Die Schiffe sahen überaus merkwürdig aus. Es waren flache dunkle Langschiffe mit jeweils einem einzigen Segel – mal einfarbig rot, mal mit Rauten- oder Streifenmuster. Unheilverkündend waren die hohen geschwungenen Steven an der Vorderseite: Sie hatten die Form von Drachenköpfen oder Teufeln. Kamen sie geradewegs aus der Hölle? Falls sie Böses im Schilde führten, so vertrauten die Mönche auf den Schutz Gottes. Sie selbst konnten sich nicht verteidigen – keiner von ihnen besaß eine Waffe.

Schiffsmeldungen und böse Ahnungen

Waffen gehörten nicht hierher, denn dies war einer der heiligsten Orte der Christenheit, das Kloster Lindisfarne. Weithin sichtbar erhoben sich seine Türme und Dächer über Land und Meer. Lindisfarne lag auf einer Insel – der Heiligen Insel. Nur bei Ebbe war dieser Hort des Glaubens und der Gelehrsamkeit mit dem Festland von Northumbrien in Nordengland verbunden, so wie eine Muschel sich täglich öffnet und schließt. Eine Welt im Rhythmus der Gezeiten, in Symbiose mit dem Meer. Und jetzt sollte etwas Böses über das Meer kommen?

Die fremden Seefahrer hatten ihre Segel eingeholt und ruderten auf die Insel zu. Als sie sie erreichten, sprangen sie aus den Schiffen und zogen sie auf den langen Sandstrand. Dann stimmten sie ein wildes Geschrei an und liefen den Weg zum Kloster hoch. Jetzt konnte man erkennen, dass sie Waffen trugen: Speere, Beile, Messer, Äxte und breite, mit Blutrinnen versehene Schwerter. Die Mönche dürften versucht haben, das Wort an die Eindringlinge zu richten – die einzige Möglichkeit, auf sie einzuwirken. Aber wenn die hühnenhaften Männer ihre Sprache verstanden hätten: Es war offenkundig, dass sie nicht zum Reden hergekommen waren. Vor ihren Altären und Schreibpulten wurden die Klosterbrüder niedergemacht. Einige von ihnen sollen ins Meer geworfen worden sein, andere wurden nackt ausgezogen und weggejagt. Dann rissen die Eindringlinge aus den geweihten Kirchenräumen alle Kostbarkeiten heraus: goldene Kruzifixe und silberne Monstranzen, Reliquienkästchen aus Elfenbein und die edelsteingeschmückten Einbände und Verschlüsse wunderbarer Pergamentbände. Die kunstvoll ausgemalten Handschriften selbst dagegen warfen sie weg, damit konnten sie nichts anfangen. Als sie alles zusammengerafft hatten, verstauten sie die gewaltige Beute in ihren Langbooten. Den Rest zündeten sie an. Und dann verschwanden sie ebenso plötzlich über das Meer, wie sie gekommen waren. Bald kündeten von ihrem Besuch nur noch ausgebrannte, rauchende Mauern, Leichen und umherirrende, verstümmelte Menschen.

Das Zeitalter der Seewölfe bricht an

Der Überfall auf Lindisfarne vom 8. Juni 793 lief als Schreckensnachricht durch ganz Europa. An eine solche Gräueltat konnte sich niemand erinnern. Der angelsächsische Mönch Alkuin, der als größter Gelehrter seiner Zeit galt und am Kaiserhof Karls des Großen in Aachen wirkte, kannte Lindisfarne gut: „Seit nahezu 350 Jahren wird dieses überaus liebliche Land von uns und unseren Vätern bewohnt, und noch nie hat es in Britannien solchen Schrecken gegeben wie den, der uns jüngst durch ein heidnisches Volk widerfahren ist.“ Was der Gelehrte nicht ahnen konnte: Lindisfarne sollte in den nächsten 300 Jahren schreckliche Normalität werden. Noch im selben Sommer suchten die später als Wikinger bezeichneten Nordmänner das südlich von Lindisfarne gelegene Kloster Jarrow heim und raubten es ebenfalls aus. Dann kamen Schottland, Wales und Irland an die Reihe. Lindisfarne wurde aus Angst vor neuen Überfällen schließlich aufgegeben – die Mönche zogen sich ins Landesinnere zurück. Aber auch dort waren sie bald nicht mehr sicher – die Nordmänner folgten ihnen.

Sie fuhren die Flüsse hinauf, griffen sogar London an. Wenn man ihnen den Weg über die Flüsse versperrte, rollten sie ihre Schiffe notfalls auf Baumstämmen ein Stück über Land. Nichts konnte sie aufhalten, alle zitterten vor ihnen. Allein schon wie sie in die Schlacht zogen: brüllend und ungestüm. Manchmal bissen sie sogar in den Rand ihrer Holzschilde – nur die heute so berühmten Helme mit Hörnern, die hatten sie nicht. Ihre Grausamkeit war berüchtigt: Man erzählte sich, dass sie Gefangene hinrichteten, indem sie ihnen die Brust aufschnitten, die Rippen abbrachen und die Lungen herauszogen. Unter den letzten Atemzügen des sterbenden Opfers bewegten sich die Lungenflügel auf und nieder. Darum nannten sie diese Folter „Blutadler“. Ob sie das wirklich gemacht haben, ist heute umstritten. Aber viele zeitgenössische Sagas und Lieder berichten darüber. Entscheidend war letztlich, dass man es den Wikingern auf jeden Fall zugetraut hätte. Ein Abt, der selbst einen Überfall erlebt hatte, schrieb, sie schlachteten ihre Opfer ab, als ob sie „unvernünftiges Vieh, nicht Menschen“ wären.

Bald beschränkten sich die Angreifer nicht mehr auf die Britischen Inseln. 834 begann eine Serie von Überfällen auf das größte Handelszentrum Nordeuropas, den Rheinhafen Dorestad in der Nähe von Utrecht. Er hatte etwa 2.000 bis 3.000 Einwohner, für die damalige Zeit eine beachtliche Zahl. Da der Handelsplatz für den internationalen Warenaustausch von so überragender Bedeutung war, bauten ihn die Einwohner immer wieder auf – und die Wikinger zerstörten ihn jedes Mal aufs Neue. Schließlich wurde die Siedlung aufgegeben. In den Niederlanden sind, im Gegensatz zu Deutschland, zahlreiche archäologische Funde aus der Wikingerzeit gemacht worden – so entdeckte man in der Stadt Zutphen 1997 die direkt nebeneinander liegenden Skelette einer Mutter und ihres etwa 13-jährigen Kindes. Beide waren bei einem Wikingerangriff getötet worden.

Zu einem furchtbaren Massaker kam es 843 in Nantes in der Nähe der Loire-Mündung. Es war gerade Markttag, die Stadt vollgepackt mit Menschen. Da tauchten plötzlich die gefürchteten Schiffe aus dem Nichts auf. Schon waren die Nordmänner in den Straßen, trieben wehrlose Menschen vor sich her und streckten sie nieder. In der Kathedrale schlugen sie sogar den Bischof tot.

Fette Beute: Die Schätze von Sevilla

Danach fuhren sie mit 120 Schiffen die Seine bis Paris hinauf. „Es schien, als würde das ganze Christenvolk zugrunde gehen“, schrieb ein Mönch. Doch nicht nur Christen, auch Mauren hatten unter den heidnischen Piraten zu leiden: 844 wurden die Drachenboote vor der Küste Südspaniens gesichtet. Sie fuhren den Fluss Guadalquivir hinauf, eroberten Sevilla und hielten dort sechs Wochen aus. Als sie wieder abzogen, war von der Stadt nicht mehr viel übrig.

Bald sehnten die Menschen die kalte Jahreszeit herbei, trotz aller damit verbundenen Entbehrungen: Denn im Winter kamen zumindest keine Wikinger. Aber auch das änderte sich. Godefrid und Sigfrid, zwei dänische Anführer, überwinterten ab November 881 weit landeinwärts in Elsloo an der Maas. Von ihrem Stützpunkt aus unternahmen sie Raubzüge ins Umland – und bewiesen dabei, dass sie sich im Pferdesattel ähnlich schnell fortbewegen konnten wie unter Segeln. Zunächst brandschatzten sie Lüttich, Maastricht und Tongeren, dann zogen sie mit einem großen Heer von Fuß- und Reiterkriegern rheinaufwärts und zerstörten Köln und Bonn. Kirchen und andere große Gebäude gingen in Flammen auf. Der Moment der größten Demütigung kam, als die Wikinger Aachen besetzten und die Pfalzkapelle Karls des Großen zu einem Pferdestall umfunktionierten.

Das Frankenreich ist machtlos

Die Machtlosigkeit des riesigen Frankenreichs hätte nicht deutlicher zutage treten können. Hier wie auch in England profitierten die Wikinger von der Zerstrittenheit ihrer Gegner. Im Frankenreich rangen die Nachkommen Karls um sein Erbe, in England führten mehrere kleine Königreiche Krieg gegeneinander. Dazu kam, dass niemand wusste, wo genau die Wikinger als Nächstes zuschlagen würden. Eine Befestigung ganzer Küstenabschnitte überstieg die Möglichkeiten frühmittelalterlicher Reiche bei Weitem. So ergab sich der Eindruck von Schafen, die den reißenden Wölfen aus dem Norden hilflos ausgeliefert waren. Ganz so war es allerdings nicht. Mit der Zeit wussten sich die potenziellen Opfer besser zu schützen. Das damals noch auf der Seine-Insel liegende Paris zum Beispiel wurde immer weiter befestigt, sodass es am Ende wie ein riesiges, im Fluss ankerndes Kriegsschiff aussah. Und 881 errang der westfränkische König Ludwig III. in offener Feldschlacht einen triumphalen Sieg über die Wikinger.

Von Winterlagern zu festen Siedlungen

Mit Überwinterungen wie in Elsloo und möglicherweise auch am Niederrhein bei Xanten oder Neuss hatte eine neue Phase der Wikingerexpansion begonnen: Sie beschränkten sich nicht mehr auf einzelne Raubzüge in den Sommermonaten, sondern blieben das ganze Jahr und wurden dadurch zur Dauerplage. Die gleiche Entwicklung vollzog sich auf den Britischen Inseln: Dort hatten Wikingertruppen bereits 851 erstmals auf den Inseln Sheppey und Thanet im Mündungsgebiet der Themse überwintert. In Irland bauten sie seit 841 an einem geschützten Hafen für ihre Schiffe. Die Iren nannten diese Stelle „Duibhlinn“ (Schwarzer Pfuhl). Es war die Geburtsstunde der ersten irischen Stadt, Dublin. Im Laufe der Zeit bauten sich dort skandinavische Händler und Handwerker einfache Holzhäuser – und damit war die dritte Phase eingeläutet: Die Wikinger siedelten dauerhaft in festen Territorien außerhalb Skandinaviens. Das bekannteste Beispiel dafür ist die Normandie, die sogar nach den Nordmännern benannt ist. Sie geht zurück auf Häuptling Rollo, der das Gebiet im Nordwesten Frankreichs vom westfränkischen König Karl dem Einfältigen als Lehen erhalten hatte. Die normannischen Krieger blieben dort und stellten sich auf ein geruhsames Bauernleben um. Ein Nachfahre Rollos war es dann, der 1066 nach England übersetzte und zu Wilhelm dem Eroberer wurde. Jenes Jahr bezeichnet für gewöhnlich das Ende der Wikingerzeit.

 

Christoph Driessen

 

Zuletzt geändert: 02.06.2015

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