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Mut zur Freiheit

Hans und Sophie Scholl

Sie wurden nur 21 und 24 Jahre alt. Hingerichtet für ihren Widerstand gegen das NS-Regime. Sophie und Hans Scholl gelten als „Inkarnation des Guten“. Ihr Leben war nicht frei von Widersprüchen, der Weg in die Rebellion gefährlich.

Mahnmal Weiße Rose München

Verteilte Flugblätter: Mahnmal für die Geschwister Scholl und die Weiße Rose vor der Ludwig-Maximilians-Universität München | © Wikimedia Commons

Eine Journalistin hat für den Fernsehsender „Arte“ 2005 nachgerechnet. Die Frage: Nach wem sind die meisten deutschen Schulen benannt? Die Antwort: nach den Geschwistern Scholl, noch vor Albert Schweitzer und Johann Wolfgang von Goethe. Jeder in Deutschland, so scheint es, kennt die Geschichte der beiden Studenten, die im Februar 1943 dabei erwischt wurden, wie sie Flugblätter in den Lichthof der Münchner Universität flattern ließen, und für ihren Widerstand gegen das NS-Regime mit dem Leben bezahlten. Vor allem Sophie Scholl scheint längst in den Stand einer „säkularen Heiligen“ („Einestages“) erhoben. Was aber machte die Geschwister Scholl zu jenen scheinbar unerschrockenen Rebellen, als die sie verehrt werden?

1933. In Ulm erlebt die Familie Scholl, Robert und Magdalene mit ihren fünf Kindern Inge, Hans, Elisabeth, Sophie und Werner, die Zeit des Umbruchs von der Weimarer Republik zur NS-Diktatur. Am 20. Mai 1933 notiert Inge, die Älteste, in ihrem Tagebuch: „Hans ist jetzt in der Hitler-Jugend […] Das Braunhemd steht im gut.“ Die Scholl-Geschwister begeistern sich für die Jugendorganisation der NSDAP. Konflikte mit den Eltern sind vorprogrammiert. Denn die denken ganz anders über das, was gerade in Deutschland passiert. Ein zähes Ringen, nicht ohne Provokationen. Hans ist 14, als er eine Radierung mit Hitlers Konterfei im Kinderzimmer aufhängt. Jeden Tag, wenn der Vater nach Hause kommt, nimmt dieser sie ab und legt sie in eine Schublade. Hans hängt sie wieder auf – bis Robert Scholl resigniert. Dennoch: Die Eltern konnten sich darauf verlassen, dass ihre Argumente von den Kindern nicht nach außen getragen wurden, und die konnten sich trotz aller Differenzen der bedingungslosen Zuneigung ihrer Eltern gewiss sein.

Als Kind tritt Hans Scholl noch in die Hitlerjugend ein

Die Scholl-Kinder wuchsen behütet auf. In einem Schulaufsatz, den sie mit 18 Jahren schrieb, erinnert sich Sophie an die Bade-Samstage ihrer frühen Kindheit im schwäbischen Forchtenberg, wo der Vater Bürgermeister war: „Meine ältere Schwester durfte schon am Freitag baden, damit nicht all unser Dreck zusammenkam. Wir vier kleineren wurden dann, zwei und zwei, in die Badewanne gesteckt und unserem Schicksal überlassen. Denn unsere Mutter hatte uns die überaus wichtige Aufgabe gestellt, uns selbst zu waschen.“ Danach gab es Honigbrot, ein Märchen und ein Gebet vor dem Zubettgehen. Die ehemalige Diakonisse Magdalene Scholl gab ihr Gottvertrauen an die Kinder weiter.

Nach und nach treten die Scholl-Kinder in die HJ ein. Hans wird Anfang 1935 zum „Fähnleinführer“ ernannt. Im gleichen Jahr reist er zum Reichsparteitag, darf an Hitler vorbeimaschieren – eine Auszeichnung. Laut seiner Schwester Inge kehrt er enttäuscht zurück. Er habe ein anderes Ideal gehabt als diese uniformierte Jugend. „Hans aber wünschte, dass jeder Junge durch seine Persönlichkeit die Gruppe reicher machen sollte“, schreibt Inge Scholl. Individualismus vertrug sich aber nicht mit der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“. Die Schwester skizziert dieses Erlebnis als einen Riss in der Begeisterung für die HJ – nicht nur für Hans, der bei seinen Gruppenabenden Rilke vorlas, sondern auch für seine Geschwister.

Trotz BDM behält Sophie Scholl ihren eigenen Kopf

Und Sophie? Sie steigt 1935 zur Scharführerin bei den Jungmädeln auf, leitet eine Gruppe von etwa 15 Mädchen. Es gibt nur wenige Quellen über ihre Jahre beim BDM. Überliefert ist, dass sie bei ihrer Konfirmation in brauner Uniform erscheint. Ihre Freundin Susanne Hirzel, die sie mit 14 Jahren beim BDM kennenlernte, beschreibt sie 1946: „Sie war wie ein feuriger wilder Junge, trug die dunkelbraunen glatten Haare im Herrenschnitt und hatte mit Vorliebe eine blaue Freischarbluse oder eine Winterbluse ihres Bruders an. Sie war keck, mit heller, klarer Stimme, kühn in unseren wilden Spielen und von einer göttlichen Schlamperei.“ Trotz ihres Engagements für den BDM behält Sophie Scholl ihren eigenen Kopf. Sie liest Mann, Heine und Rilke. Sie raucht und besucht ihren Freund Fritz Hartnagel heimlich in der Kaserne. Es sind Widersprüche in einer Zeit der Widersprüche – des Erwachsenwerdens.

Sie zeichnet hervorragend. Ihre Briefe und Tagebucheinträge offenbaren ihr literarisches Talent – und gewähren zaghafte Einblicke in ihr Inneres. Im November 1937 taucht Fritz Hartnagel in Sophies Tagebuch auf. Die 16-Jährige ist verliebt. Für sie ist es ein Ringen. Denn Sophie Scholl ist das Denken wichtiger als das Gefühl und nun drängen sich die Emotionen förmlich auf. Dieses Hin-und-Hergerissensein wird ihre Beziehung begleiten. In einem ihrer späteren Briefe wird Sophie Fritz fragen: „Glaubst du nicht, das Geschlecht könnte vom Geiste überwunden werden?“ Sophie Scholl stellt immer hohe Ansprüche an sich. „Wenn Sophie Scholl nach ihren eigenen Maßstäben leben und handeln will, muss sie frei und unabhängig sein“, schreibt ihre Biografin Barbara Beuys. Doch Gefühle bewirken genau das Gegenteil, machen abhängig.

Der Rückzug ins Private war den Scholls nicht mehr genug

1937. Das Jahr neigt sich dem Ende und hält für die Familie Scholl eine ungute Überraschung bereit. Hans, inzwischen 19 Jahre alt und Rekrut in Bad Cannstadt, wird verhaftet. Der Vorwurf: bündische Umtriebe. Zu Hause in Ulm taucht die Gestapo auf und nimmt auch Inge, Werner und Sophie Scholl kurzfristig fest. Im Gefängnis fasst Hans den Entschluss, Medizin zu studieren. Es kommt auch zu einer Annäherung an die Eltern. Ihnen schreibt er: „Ich glaube wieder an meine eigene Kraft; und diese Kraft verdanke ich zuletzt doch nur Euch. Ich fühle jetzt erst ganz den Willen meines Vaters, den er selbst hatte und den er mir übergab: etwas Großes zu werden für die Menschheit.“

Ende Dezember wird Hans aus der Untersuchungshaft entlassen. Im Juni 1938 muss er vor Gericht erscheinen. Seine Zukunft steht auf dem Spiel. Hans Scholl hat Glück. Er profitiert von einer Amnestie. Der Junge, der als 14-Jähriger Hitlers Konterfei im Kinderzimmer aufhängte, hat sich verändert. Nachdenklich schreibt er seinen Eltern nach dem „Anschluss“ Österreichs: „Bei uns wird ja ordentlich mit dem Säbel gerasselt […] Mir ist der Kopf schwer. Ich verstehe die Menschen nicht mehr. Wenn ich durch den Rundfunk diese namenlose Begeisterung höre, möchte ich hinausgehen auf eine große einsame Ebene und dort allein sein.“ Hans und Sophie suchen im Kreis ihrer Geschwister und enger Freunde nach Orientierung. Die evangelisch getauften Scholls setzen sich intensiv mit den Schriften der „Renouveau Catholique“ auseinander. Der Rückzug ins Private ist irgendwann nicht mehr genug.

Die ersten Flugblätter und eine „Schmieraktion“

Im Sommer 1942 machen die ersten Flugblätter einer Gruppe, die sich die Weiße Rose nennt, die Runde. Sie sind an einen kleinen Kreis, meist an Akademiker aus dem Raum München, gerichtet. Hans Scholl und sein Freund, der Medizinstudent Alexander Schmorell, sind die Verfasser dieser ersten vier Flugblätter. Sie sind auch für die „Schmieraktion“ verantwortlich, die Anfang Februar 1943 für Aufruhr sorgt: „Freiheit“ steht in großen Lettern an den Mauern der Universität. An verschiedenen Gebäuden in der Stadt finden sich weitere Parolen: „Nieder mit Hitler“.

Ob Hans‘ Schwester Sophie im Sommer 1942 bereits wusste, dass ihr Bruder und sein Freund hinter den Flugblättern stehen, ist unklar. Im Mai 1942 schrieb sie sich an der Münchner Universität für die Fächer Biologie und Philosophie ein. Das Studium hat sie später als geplant aufgenommen. Nach dem Abitur hatte Sophie zunächst eine Ausbildung zur Kindergärtnerin im Fröbelseminar gemacht, hoffte so, dem Reichsarbeitsdienst zu entkommen. Eine Fehlkalkulation. Ein Jahr hat sie der Dienst gekostet. Die Erfahrungen des Arbeitsdienstes bestärken sie in der längst aufgekeimten Abwehrhaltung gegenüber dem Nationalsozialismus. Trost findet sie in den Büchern, vor allem die tägliche Lektüre des Kirchenlehrers Augustinus gibt ihr Halt. Ihr Standpunkt gegenüber dem vom NS-Regime vom Zaun gebrochenen Krieg ist klar. Ihrem Freund Fritz Hartnagel, der in der Wehrmacht dient, macht sie es nicht leicht. Bereits am 5. September 1939, vier Tage nach dem Überfall auf Polen, schreibt sie ihm: „Ich kann es nicht begreifen, dass nun dauernd Menschen in Lebensgefahr gebracht werden von anderen Menschen. Ich kann es nie begreifen und finde es entsetzlich. Sag nicht, es ist fürs Vaterland.“

Freunde gewähren Einblick in den Alltag an der Front

Wann genau der Wille, der Mut zur Tat in Sophie Scholl heranreifte – es lässt sich nicht datieren. Doch immer mehr macht die Familie Erfahrung mit den Folgen der Diktatur. Sophies Freund Fritz und ihr Bruder Werner dienen an der Ostfront. Ihre Briefe geben einen ungeschönten Einblick in den Kriegsalltag. Der Schrecken des Krieges, auch der Judenverfolgung, wird für sie fassbar. Ein guter Freund fällt. Und dann noch das: Robert Scholl wird denunziert, weil er Hitler eine „Gottesgeißel“ genannt hat. Dafür muss er 1942 in Haft.

In München schließt sich Sophie mit ihrem Bruder und seinen Freunden Alexander Schmorell, Christoph Probst und Willi Graf zusammen. Gemeinsam bilden sie den Kern der Weißen Rose. Im Sommer 1942 müssen Hans Scholl, Graf und Schmorell zum Sanitätsdienst an die Ostfront. Nach seiner Rückkehr beziehen die Geschwister eine gemeinsame Wohnung. Die beiden Scholls halten Kontakt zu Theologen und Philosophen. Besuchen die Vorlesung des Philosophieprofessors Kurt Huber, der eine Art Mentor der Weißen Rose wird. Hans steht oft im Mittelpunkt, ist schillernd, geistreich, aber auch getrieben. Sophie hält sich im Münchner Kreis oft eher zurück.

Trotz der Gefahr führen die Scholls ein aktives Leben

Im Januar erscheint das fünfte Flugblatt der Weißen Rose. Anders als seine Vorgänger richtet es sich nicht mehr an einen elitären Kreis. Es erscheint in einer Auflage von 6000 bis 9000 Stück. Der „bildungsbürgerliche Zitatschatz“ (Barbara Beuys) ist gestrichen. Das Verbreiten der Flugblätter ist eine logistische Herausfoderung. Papier und Umschläge, Briefmarken, Matrizen und Adressen müssen organisiert werden, ohne dabei aufzufallen. Hans und Sophie Scholl sind erschöpft. Dazu die Angst vor dem Erwischtwerden. Und doch: Das Leben vergessen sie nicht. Sie lassen den Kontakt zu Freunden und Familie nicht abreißen, besuchen literarische Veranstaltungen und Konzerte, machen Ausflüge. Reaktionen auf die bisherigen Flugblattaktionen bleiben aus. Dann kommt Stalingrad. Wendet sich die Stimmung im Land gegen das Regime?

Kurt Huber entwirft ein sechstes Flugblatt. Etwa 3000 Stück werden gedruckt. Am Morgen des 18. Februar machen sich Sophie und Hans Scholl auf den Weg zur Universität, um die Flugblätter zu verteilen. Es ist der Tag, an dem Propagandaminister Goebbels im Berliner Sportpalast vor der frenetischen Masse den totalen Krieg ausruft. Viel ist darüber spekuliert worden, was sie dazu verleitete, dieses Risiko einzugehen. Glaubten sie, die Gestapo sei ihnen schon auf den Fersen? Beim Auslegen der Flugblätter werden die Geschwister beobachtet. Sie werden festgenommen und von der Gestapo verhört.

Der Prozess lässt den Geschwistern Scholl keine Chance

Auch wenn die Verhörprotokolle kritisch zu lesen sind, spiegeln sich hier zwei starke Charaktere – 21 und 24 Jahre alt. Der Prozess, der ihnen vor dem „Volksgerichtshof“ gemacht wird, lässt ihnen keine Chance. Sophie und Hans Scholl sowie Christoph Probst, der später verhaftet wurde und mit ihnen vor Gericht steht, werden zum Tod verurteilt. Auch Alexander Schmorell, Kurt Huber und Willi Graf wird dieses Schicksal wenig später nicht erspart bleiben. Noch am Tag ihrer Verurteilung werden die drei Freunde hingerichtet. Sophie als erste. „Es lebe die Freiheit“, ruft Hans noch, bevor der Henker das Fallbeil auslöst. Jahrzehnte später dreht jemand Sophies Exemplar der Anklageschrift um. In Schönschrift steht dort: Freiheit.

Christine Richter

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 2/2013 „Gladiatoren“

Zuletzt geändert: 20.04.2017