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Tausend Schiffe und ein blinder Mann

Homer

Die Etrusker waren begeistert von den Helden der Epen Homers. Wer war der Dichter und woher hatte er den Stoff für die „Ilias“ und die „Odyssee“?

römische Homer-Büste

Genauso begeistert von Homer wie die Etrusker waren auch die Römer: Römische Darstellung Homers aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. Dass der Dichter blind gewesen sein soll, ist eine Erfindung seiner Fans aus der Antike. | © istockphoto.com/Tony Baggett

Wenn es ihn wirklich gegeben hat, Homer, dichtete und sang er sich in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. durch griechische Adelssitze. Aufgrund gewisser sprachlicher Eigenheiten könnte er an der nördlichen kleinasiatischen Küste seine Heimat gehabt haben oder auf einer der vorgelagerten Inseln: Genaues weiß man nicht.

Mit Homers Helden konnten sich alle Griechen identifizieren

Homers Helden- und Göttermythen schufen für die Griechen der klassischen Zeit ein Identifikationsmuster, ein gemeinsames Selbstverständnis trotz ständiger Kriege untereinander. In der Ilias beschreibt Homer, wie ein panhellenisches Heer eine Stadt namens Ilios belagert. Mehr als eintausend Schiffe sind fast zehn Jahre zuvor vom griechischen Mutterland aus hinübergefahren, in das Troas genannte Gebiet vor den Dardanellen, um Rache zu nehmen für einen Frevel: Paris, der trojanische Prinz, hatte Helena entführt, die Frau des Königs Menelaos von Sparta.

In der Ilias geht es gar nicht um Krieg

Die Ilias allerdings ist keine Kriegsgeschichte. Sie umfasst lediglich 51 Tage gegen Ende der Belagerung. Ihr Thema ist das Gemüt des Helden Achilleus, niedergelegt in Vers 1: „Den Zorn singe, Göttin, des Peleus-Sohns Achilleus.“ Der ist nämlich stocksauer auf Oberbefehlshaber Agamemnon, weil er ihm die schöne Briseis weggenommen hat. Achilleus schmollt und kämpft nicht mehr. So haben die Griechen ein Problem (Vers 2): „Den verderblichen [Zorn], der zehntausend Schmerzen über die Achaier [Griechen] brachte.“

Was ist dran an den Heldengeschichten?

Homers Helden

Homers Heldenfiguren haben bis in die heutige Zeit überdauert: Diese Darstellung aus dem 19. Jahrhundert zeigt, wie Ajax die griechischen Schiffe gegen die Trojaner verteidigt. | © istockphoto.com/whitemay

Haben die homerischen Geschichten einen historischen Hintergrund? Diese Frage wird seit zweieinhalb Jahrtausenden gestellt. Der Altphilologe Joachim Latacz (* 1934) ist einer der bedeutendsten Homerkenner der Neuzeit. Er wagt eine Antwort. Seine eigenen Forschungen und die jüngeren Erkenntnisse der Archäologie und Hethitologie lassen Latacz ein faszinierendes Bild zeichnen vom Übergang der archaischen Epoche in die historische, vom Griechenland der Mykener ins klassische Hellas.

Es ist wohl wirklich passiert, aber viel früher

Latacz gleicht die altertümliche Sprache Homers und dessen inhaltliche Nachrichten mit den jüngsten Ergebnissen der Archäologen in Griechenland und Kleinasien ab, vor allem mit den Keilschrifttafeln der Hethiter, der Ägypter und der Mykener. Dabei entdeckt er erstaunlich viele Übereinstimmungen zwischen der Zeit um 1200 v. Chr., als eine Hochkultur zugrunde ging, und der Ilias. Vieles von dem, was Homer beschreibt, passt zwar nicht in seine eigene, aber sehr gut in die Zeit vier Jahrhunderte oder mehr zuvor. Wie kann das sein?

Homer schrieb absichtlich in einem veralteten Stil

Beispiel Sprache: Die rund 16000 Verse der Ilias sind konsequent im Versmaß des Hexameters gehalten. Doch immer wieder sind – für den Experten – Unregelmäßigkeiten zu erkennen, wo das Versmaß scheinbar nicht aufgeht. Diese vermeintlichen Fehler lassen sich oft dadurch heilen, dass man in das betreffende Wort einen W-Laut einfügt. Zu Zeiten Homers wurde der gar nicht mehr gesprochen, wohl aber in mykenischer Zeit. Homer transportiert ihn, quasi unbewusst, aus der Vergangenheit mit.

Beispiel Namen: Bei Homer heißen die Griechen nicht Hellenen, sondern Argeier, Danaer oder Achaier. So nennt sie um 800 v. Chr. niemand mehr. Begriffe wie Danaer und Achaier sind komplett verschwunden. Doch tatsächlich tauchen sie in Inschriften und Briefen der Hethiter und Ägypter aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. auf. Bei Homer sind sie also ein Reflex aus der Vergangenheit.

Homers Geschichte spielten weit vor seiner Zeit

Im berühmten Schiffskatalog der Ilias stellt Homer die griechischen Teilnehmer des Feldzuges vor. Ortsnamen tauchen auf, die in klassischer Zeit unbekannt waren. Und doch hatte er sie nicht erfunden. Viele lassen sich heute als versunkene Festlandsstädte in mykenischer Zeit verorten, dank der in Linear B geschriebenen Tontäfelchen der Hofbürokraten jener um 1200 v. Chr. untergegangenen Palastepoche.

Dagegen nennt Homer keinen einzigen griechischen Ort Kleinasiens, wie es sie zu seiner Zeit zahlreich gab – das muss einen Grund haben. Homer lebt in einer Zeit des Übergangs. Um 800 v. Chr. übernehmen die Griechen von den Phöniziern die Buchstabenschrift. Sie greifen aus und gründen Kolonien im gesamten Mittelmeerraum. Das bedeutet: Homers Geschichten spielen vor dieser Zeit. Er hätte es sich nicht erlauben können, wichtige Städte einfach wegzulassen.

Die mündliche Überlieferung überdauerte

Homer, der reisende Sängerdichter (Aoide), nimmt die uralten Mythen auf, wie er sie selber gehört hat. Er trägt sie an den Höfen der – im Vergleich zur mykenischen Hochkultur – viel kleineren Adelssitze zur Unterhaltung und Erbauung vor. Die Existenz solcher fahrender Sänger zwischen 1200 und 800 v. Chr. lässt sich sogar archäologisch nachweisen.

Wie kamen die steinalten Geschichten auf Homer? Die Erforschung der „oral history“ in Gesellschaften der frühen Neuzeit hat den Beweis erbracht: Mündliche Überlieferung ist in der Lage, Jahrhunderte zu überdauern. Eine große Hilfe für die Interpreten sind Satzbausteine, immer gleiche Formulierungen wie etwa „der leichtfüßige Achilleus, Peleus-Sohn“. Scheinbar gehören sie nicht in den Zusammenhang. Doch für den Dichter, der die Handlung spontan ausschmückt, bieten sie die Gewähr, immer im richtigen Versmaß zu bleiben, ohne groß nachdenkenzu müssen.

Hat Homer Troja selbst als Tourist besichtigt?

Homers Publikum war vertraut mit dem Mythos vom Krieg um Troja. Bruchstückhaft ist eine Reihe weiterer Geschichten erhalten, die zusammen erst den uns bekannten Trojanischen Krieg ausmachen, weit vor der Ilias-Handlung beginnend und weit über sie hinaus weisend. Dass Homer sich auf den Teilaspekt von „Achilleus’ Zorn“ beschränkte, empfanden die Zuhörer also nicht als Mangel.

Hat Homer „Ilion“ als Ruinenstätte selbst besichtigt? Warum nicht, fragt der Archäologe Manfred Fuhrmann. Troja sei zu Homers Zeiten sicher ein „imposanter Kultplatz“ gewesen. Homers angebliche Blindheit jedenfalls ist eine antike Erfindung.

Joachim Latacz glaubt, der Sagenstoff um den Trojanischen Krieg könne durchaus auf eine Zeit im 2. Jahrtausend v. Chr. Bezug nehmen. Nachweislich führten starke mykenisch-griechische Truppen Feldzüge auch in der Troas durch, in »Wilusa/Wilion«, dem Vasallenstaat des hethitischen Reiches. Mündliche Überlieferung »rettete« als Heldendichtung die Erinnerung daran, vielfach ausgeschmückt, ergänzt und modifiziert, in die klassische Zeit. Und damit bis zu uns.

 

Ulrich Graser

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 3/2016 „Trojas Untergang“

Zuletzt geändert: 19.7.2017