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Einwanderungsland Deutschland

Im Sog der Montanindustrie

Fachkräftemangel, Armutszuwanderung, Angst vor „Überfremdung“: Die großen Themen der aktuellen Migrationsdebatte haben mehr Tradition, als auf den ersten Blick sichtbar ist.

Fördertürme – wie auf der Zeche Zollern – prägen das Ruhrgebiet bis heute. Im 19. Jahrhundert zog die Region viele Arbeitskräfte an. Bildnachweis: istockphoto.com/AM-C

Fördertürme – wie auf der Zeche Zollern – prägen das Ruhrgebiet bis heute. Im 19. Jahrhundert zog die Region viele Arbeitskräfte an. | © istockphoto.com/AM-C

Wie die aktuelle, so hatte auch die Diskussion Ende des 19. Jahrhunderts vor allem einen wirtschaftlichen Kern. Waren nach einer starken Rezession, der sogenannten Gründerkrise, die Auswanderungszahlen, vor allem in die USA, in die Höhe geschnellt, wurde Deutschland mit Beginn der wirtschaftlichen Erholung plötzlich selbst zum Ziel von Einwanderern.

Die Boombranche jener Zeit war die Montanindustrie: Im Ruhrgebiet wurde Kohle gefunden, zunächst oft nur wenige Meter unter der Oberfläche. Bald eröffnete eine Zeche nach der nächsten. Hunderttausende fanden alleine in den Kohlegruben Arbeit. Der enorme Arbeitskräftebedarf konnte nur mit ausländischen Arbeitern gedeckt werden – Deutschland wurde nach 1890 zum zweitgrößten Einwanderungsland der Welt, übertroffen nur noch von den USA. 1914 lebten im Deutschen Reich 1,2 Millionen sogenannter „ausländischer Wanderarbeiter“, schreiben die Migrationshistoriker Jochen Oltmer und Klaus Bade.

Doch die eigentlichen Wanderungsbewegungen waren noch viel größer: Denn die Zahl von 1,2 Millionen umfasst weder Schwarzarbeiter noch jene Arbeitskräfte, die innerhalb des Deutschen Reiches umzogen – und von der Mehrheitsgesellschaft dennoch als auswärtig empfunden wurden.

Die meisten „Ruhrpolen“ waren deutsche Staatsbürger

Die bekannteste dieser Gruppen, die der „Ruhrpolen“, hat bis heute im Ruhrgebiet ihre Spuren hinterlassen – nicht zuletzt ihre Namen, wie schon ein Blick ins Telefonbuch zeigt. Doch einen unabhängigen polnischen Staat gab es im 19. Jahrhundert nicht: Polen war zwischen Preußen, Österreich und Russland aufgeteilt worden. Die überwiegende Mehrzahl der „Polen“, die in das Ruhrgebiet zogen, waren daher deutsche Staatsbürger, zunächst meist aus Schlesien, ab 1890 vor allem aus Ostpreußen und Posen. 1914 lebten im Ruhrgebiet mehr als 400 000 polnischsprachige Zuwanderer, sagt der Historiker Brian McCook. Damit war rund ein Viertel aller Bergarbeiter polnischer Herkunft. Demgegenüber durften Polen aus dem russischen Gebiet, die von den Behörden als „russische Arbeiter“ bezeichnet wurden, in der Montanindustrie nur in Schlesien tätig werden, nicht aber im Ruhrgebiet. Nachdem der polnische Staat aufgeteilt wurde, wollten die Behörden verhindern, dass Polen aus Russland oder dem Habsburgerreich mit preußischen Polen eine neue nationale Identität entwickelten.

Diese Sorge traf noch mehr auf den ehemals polnischen preußischen Osten zu. Denn der Sog des Ruhrgebiets machte sich hier auch unter den deutschen Landarbeitern deutlich bemerkbar. Angesichts immer wiederkehrender Agrarkrisen und schlechter Bezahlung waren viele gezwungen, in den boomenden Industrieregionen nach besser bezahlter Arbeit zu suchen: Aus Landarbeitern wurden Industriearbeiter. Bald schon beklagten sich die Großgrundbesitzer über ein zu geringes Arbeitsangebot, die „Leutenot“, die mittels ausländischer Arbeitskräfte einzudämmen sei. Arbeiter wurden besonders bei der Kartoffel- und Zuckerrübenernte benötigt – eine anstrengende Arbeit, da sie in gebückter Haltung auszuführen ist.Vor einer Welle polnischer Einwanderung in den Osten Preußens aber graute es der Staatsführung. Sie befürchtete eine „Polonisierung“ des Ostens.

Um den ökonomischen Nöten dennoch Rechnung tragen zu können, entwickelten Politik und Wirtschaft ein komplexes System bürokratischer Regeln, die die Einwanderung genau kontrollieren sollten. Zentral waren der sogenannte „Legitimationszwang“ und der „Rückkehrzwang“ während der „Karenzzeit“ im Winter, analysieren die Historiker Oltmer und Bade.

„Legitimationszwang“ bedeutete vor allem, dass die Einwanderung streng reglementiert war: Familien durften nicht gemeinsam einreisen, für Kinder war die Einreise generell verboten. Wurden Frauen während des Aufenthalts in Deutschland schwanger, drohte ihnen die Ausweisung. Die Aufenthaltsgenehmigung war nur für ein Jahr gültig und außerdem an einen bestimmten Arbeitgeber gebunden. Wer mit den Arbeitsbedingungen nicht einverstanden war oder ein besseres Angebot bekam, konnte also den Arbeitgeber nicht wechseln oder umziehen. Der mit diesen Regelungen verbundene „Rückkehrzwang“ bedeutete, dass die Arbeiter nach dem Ende der Saison Deutschland wieder verlassen mussten, um die „Karenzzeit“ im Winteraußerhalb des Landes zu verbringen.

„Willige und billige“ Arbeitskräfte für die Landwirtschaft

Für die Landwirtschaft lohnte sich das komplexe und aufwendige System dennoch. Trotz der Einschränkungen kamen „willige und billige“ Arbeitskräfte, wie Oltmer und Bade feststellen. „Willig“ waren sie, weil sie in ihrer Heimat oft noch schlechter bezahlt wurden. „Billig“ waren sie, weil sie zunächst weniger verdienten als die deutschen Arbeiter. Als die Löhne angeglichen wurden, sparten die Arbeitgeber immer noch alle Kosten, die außerhalb der Saison für Arbeitnehmer anfielen.

Den Gewerkschaftlern des Ruhrgebiets war die zusätzliche Konkurrenz der Ruhrpolen indes ein Dorn im Auge – sie fürchteten sinkende Löhne. Deshalb verlangten sie einerseits den Schutz der „ausländischen Lohnsklaven“ vor zu geringen Löhnen. Andererseits wurde „Pollake“ zu einem weitverbreiteten Schimpfwort, polnischsprachige Arbeiter wurden auch als „Lohndrücker“, „Kriecher“ und „Streikbrecher“ bezeichnet. Folge der häufig nationalistischen Rhetorik war allerdings, dass die polnischsprachigen Bergarbeiter um die Jahrhundertwende eigene Gewerkschaften ins Leben riefen. 1902 gegründet, wurde die polnische Gewerkschaft ZZP schon 1905 zur drittgrößten Bergarbeitergewerkschaft im Ruhrgebiet.

Obwohl polnisch klingende Namen im Ruhrgebiet bis heute präsent sind, sollte nicht vergessen werden, dass viele „Ruhrpolen“ nach dem Ersten Weltkrieg das Ruhrgebiet verließen. Damit nahm auch die Aktivität der polnischen Vereine an Intensität ab, zugleich wurden die Bindungen an die alte Heimat bei jenen geringer, die im Ruhrgebiet blieben. Aber erst als während des Wirtschaftswunders der Bundesrepublik neue Zuwanderer kamen, diesmal vor allem aus Süd- und Südosteuropa, die die lautesten, unangenehmsten Tätigkeiten verrichteten, wurden die Ruhrpolen in die Mehrheitsgesellschaft integriert.

Tobias Sauer

 

 

 

 

 

 

Zuletzt geändert: 11.06.2015