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Joachim Latacz im Interview

„Die Arbeit an Troja muss weitergehen“

Als einen „archäologischen Glücksfall“ bezeichnet Prof. Joachim Latacz die Ausgrabungen in Troja. Für G/GESCHICHTE fasst er den aktuellen Forschungsstand zu der durch Homer berühmt gewordenen Stadt zusammen.

Troja_Rüstem Aslan

Eine Stadt mit vielen Namen: Homer nannte Troja vor allem Ilios, für die Hethiter hieß die Stadt Wiluša. In der Forschung hat sich inzwischen weitgehend die Schreibweise „Troia“ für den archäologischen Fundort durchgesetzt – eine Praxis, die auch Prof. Latacz befürwortet. | © Rüstem Aslan

 

G/GESCHICHTE: Vor 13 Jahren haben Sie unseren Lesern die Faszination der Erforschung von Troja/Wilusa vermittelt. Lassen Sie uns einen Blick auf wichtige Erkenntnisse seither werfen. Was haben Ausgrabungen bezüglich der Größe des bronzezeitlichen Troja ergeben?

Professor Joachim Latacz: Um das Wichtigste in Kürze vorwegzunehmen: So gut wie alle damals erzielten vorläufigen Ergebnisse – einschließlich der meisten aufgrund des Materials angestellten Vermutungen – haben sich inzwischen bestätigt. Zur Größe der bronzezeitlichen Stadt lässt sich heute feststellen: Seit ihrer Begründung gegen 3000 v. Chr. (= Troja I) ist die Festungsstadt – sowohl Burg als auch Unterstadt – ständig gewachsen. Den entscheidenden Beweis dafür lieferte die Erforschung der Verteidigungsanlagen, vor allem der Verteidigungsgräben rings um die Unterstadt. Von einem kleinen „Piratennest“ oder einer „armseligen kleinen Siedlung“ spricht heute niemand mehr.

Troja

Luftaufnahme der Ausgrabungen in Troja | © Rüstem Aslan

 

G/GESCHICHTE: Was hat diese Erforschung der Befestigung ergeben?

Professor Joachim Latacz: Der vier bis fünf Meter breite und regelmäßig bis zu mindestens zwei Meter tiefe in den Fels geschlagene Graben, der um 1300 v. Chr. wegen des damals höheren Erdschichtniveaus noch tiefer gewesen sein muss, ist heute auf annähernd einen Kilometer als u-förmige Umgrenzung der Unterstadt nachgewiesen. Für die Größe der bronzezeitlichen Stadt lassen sich daraus circa 305 000 Quadratmeter (= 30,5 Hektar) berechnen. Peter Jablonka folgert daraus: „Troja war damals etwa so groß wie mykenische Zentren, mittelgroße hethitische Städte oder Ugarit. Nach der Größe der besiedelten Fläche und dem agrarischen Potenzial des Umlandes kann die Bevölkerung auf 5000 bis 6000 Einwohner geschätzt werden.“

G/GESCHICHTE: Und Ihre Meinung?

Professor Joachim Latacz: Ich persönlich halte diese Schätzung für noch zu niedrig. Denn es gibt die indiziengestützte Möglichkeit, dass der Graben östlich der Burg vor Einbindung in die Festungsmauer noch weiter nach Osten ausgekurvt sein könnte. Außerdem wurde in Troja VIIa ein zweiter Unterstadt-Verteidigungsgraben etwa 100 Meter weiter südlich angelegt. Der zweite Graben war zweifellos wegen einer stark angewachsenen Bevölkerungszahl nötig geworden. Die Stadtfläche vergrößerte sich dementsprechend.

Besucherzugang Burg_Rüstem Aslan

Blick auf die Ausgrabungen in Troja. Der Ausschnitt zeigt den Besucherzugang zur Burg. | © Rüstem Aslan

 

G/GESCHICHTE: Was lässt sich daraus für die Bedeutung der Stadt ableiten?

Professor Joachim Latacz: Eine solche Entwicklung weist auf die wachsende Bedeutung des Standorts und damit auf wachsende Macht Trojas im 13. Jahrhundert hin. Welche Folgerungen daraus im „globalen“ Sinn geschlossen werden können, wird noch zu zeigen sein. Troja besitzt eine singulär günstige geografische Lage: Es hat die Kontrolle über die Dardanellen-Einfahrt – eine Art natürlicher Kanal – ins Marmara- und damit Schwarze Meer und über den Ost-West-Fährverkehr an dieser Engstelle zwischen Asien und Europa. Die Stadt war prädestiniert zum „Wächter über den Hellespont“ (Dardanellen).

G/GESCHICHTE: Was vermitteln die Fundstücke der Ausgrabungen dazu für ein Bild?

Professor Joachim Latacz: Wir haben Objekte aus Metallen und Keramik gefunden, dann riesige Mengen von Purpurschneckenschalen, die auf eine hochentwickelte Textilfärbe-Industrie hinweisen. Dann haben wir weiter die im ganzen Burg- und Unterstadtgebiet gefundenen übergroßen Ton-Vorratsgefäße (Pithoi), die nicht nur für den Eigenbedarf benötigt worden sein können. Der Reichtum der Stadt, der sich bereits in Troja II im Gold des Schliemannschen „Schatzes des Priamos“ niederschlug, und nicht zuletzt das große Interesse, das die hethitische Reichsherrschaft an Troja bezeugte, belegen eine jahrhundertelange feste Einbindung in das bronzezeitliche Staaten- und Wirtschaftssystem. Troja „kann“, wie Jablonka begründet hat, in der Spätbronzezeit „als Handelsplatz im Sinne der klassischen Definition von Karl Polányi verstanden werden: Ein verkehrsgünstig gelegener Platz am Rand eines politischen und wirtschaftlichen Systems und damit an der Grenze zu einem anderen, ‚weniger entwickelten‘, an dem sich Menschen aus beiden Gebieten treffen und Güter austauschen; unter dem Schutz einer lokalen politischen Autorität, die davon profitiert“. Troja war in allen seinen Phasen, aber besonders in VI/VIIa, in die „erste globalisierte Welt“ eingebunden.

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Blick in die Bibliothek des Studienzentrums der Manfred-Korfmann-Gedächtnisbibliothek in der nahe Troja gelegenen Provinzhauptstadt Çanakkaledie | © Rüstem Aslan

 

G/GESCHICHTE: Was sind die wesentlichen Unterschiede zwischen Troja zu seiner Hochblüte (VI) und der im Zuge der spätbronzezeitlichen Krise zerstörten Stadt (VIIa)?

Professor Joachim Latacz: Die beiden Perioden sind im Grunde einzig durch ein schweres Erdbeben am Ende von Troja VIh (um 1300 v. Chr.) getrennt, dessen Folgen die Bevölkerung rasch überwand. Daher spricht die Forschung heute, Korfmann folgend, auch meist statt von VIIa auch besser von VIi. Das genannte Erdbeben hat die Burgmauer sowie einige Häuser im Innern der Burg zwar teilweise zerstört. Diese Zerstörungen wurden aber rasch wieder behoben und zum Teil zu Neuerungen, besonders im Bereich der Burgmauern, genutzt. Die Bevölkerung wuchs nach dem Erdbeben bald wieder an, und zwar über die ursprüngliche Anzahl hinaus. Man darf annehmen, dass gerade dieses Anwachsen von Fläche, Bevölkerung und damit wohl auch Produktivität und Akkumulation von Reichtum den Ort für Angreifer noch attraktiver gemacht hat. Trojas Ende durch ein kriegerisches Ereignis um 1180 wird jedenfalls nicht zuletzt eben darauf zurückzuführen sein. Inwieweit hierbei die sogenannte Seevölkerinvasion eine Rolle gespielt hat und inwieweit an dieser vielleicht auch mykenische Griechen (Achijawer) beteiligt waren, ist bislang aber noch nicht geklärt.

G/GESCHICHTE: Gibt es neue Einsichten in die wirtschaftliche Rolle von Troja/Wilusa im Kulturraum zwischen Hethitern und Achäern?

Professor Joachim Latacz: Die wirtschaftliche Rolle scheint für die Hethiter eher gering gewesen zu sein. Wichtiger war die politische Rolle: Troja sicherte die Einfahrt ins Schwarze Meer und damit die Nordflanke des hethitischen (inner-anatolischen) Großreichs ab. Daher die jahrhundertelangen Bemühungen der Hethiterkönige um Bündnisverträge. Troja/(W)Ilios – hethitisch: Wilusa – wird zur Heeresfolge mit Männern und Kriegswagen bis in die entferntesten Regionen des hethitischen Machtbereichs verpflichtet. Außerdem – die Dinge wiederholen sich über Jahrtausende hinweg – zur Rückführung von Flüchtlingen aus dem hethitischen Reichsgebiet. Als Gegendienst wird im Falle von Hilfsgesuchen Wilusas militärische Unterstützung durch Ḫattuša zugesagt. Dass diese Zusage zuletzt nicht mehr eingehalten werden konnte, lag an der globalen Erschütterung der gesamten damaligen Zivilisation um 1200 v. Chr.

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Ewiger Besuchermagnet: Das Trojanische Pferd | © Rüstem Aslan

 

G/GESCHICHTE: Welche wichtigen Aufgaben stellen sich für die kommenden Grabungskampagnen?

Professor Joachim Latacz: Manfred Korfmann selbst hatte vor seinem Tod 2005 noch eine Strategie-Änderung angekündigt: In den Mittelpunkt der Arbeiten sollte nunmehr anstelle der Ausgrabungen die wissenschaftliche Auswertung der in den 16 Grabungskampagnen 1988 bis 2003 gewonnenen Erkenntnisse – Funde, Befunde, Folgerungen – rücken. Nach Korfmanns Tod (2005) ist die neue Grabungsleitung unter Ernst Pernicka bis 2012 diesem „Arbeitsauftrag“ gefolgt. Wir alle wissen, dass es für Altertumswissenschaftler kaum etwas Enttäuschenderes gibt als die Beendigung einer Grabung ohne auswertenden Schlussbericht. Infolgedessen wurden seit 2006 manche Grabungsprojekte zugunsten der Vorbereitung der Schlusspublikation weitgehend zurückgestellt. Außer Ergänzungsgrabungen an schon bekannten Stellen und der ständigen Restaurierung des Grabungsgeländes wurde bis 2012 vor allem die Erkundung des Troja VI-Verteidigungsgrabens fortgesetzt, die ja dann, wie dargestellt, auch erfolgreich (vorläufig) beendet werden konnte. Die Fülle des Geleisteten bei der Ordnung, Analyse und systematischen Auswertung des Fundmaterials aus Troja selbst und seiner näheren und weiteren Umgebung, der Troás, kann ein Blick in die Homepage des Troja-Projekts vor Augen führen.

G/GESCHICHTE: Welche Projekte hat die derzeitige Grabungsleitung in Arbeit?

Professor Joachim Latacz: Die neue Grabungsleitung unter Prof. Rüstem Aslan hat ihre Pläne, muss sie aber im wesentlichen zugunsten anderer Aufgaben, vor allem der „Inszenierung“ des neuen Troja-Museums zurückstellen, das Ende 2016/Anfang 2017 eröffnet werden soll. Daneben stellt Rüstem Aslan, wie er mir bei meinem letzten Besuch in Troja Ende August 2015 mitteilte, derzeit eine neue internationale Ausgrabungsmannschaft zusammen, an der auch das Tübinger Team beteiligt sein soll. Nicht zuletzt trifft er die Vorbereitungen für einen großen internationalen Kongress, der zur Museumseröffnung stattfinden soll. Wir alle, die wir unser Herz an Troja verloren haben, können nur hoffen und wünschen, dass die Museumseröffnung und der Kongress auch der eigentlichen Grabung wieder neuen Auftrieb geben mögen. Denn eines darf über der Fülle der laufenden Projektarbeiten nicht übersehen werden: Vom Gesamtgelände Trojas sind bisher erst etwa fünf bis sieben Prozent ausgegraben. Die Arbeit am archäologischen Glücksfall Troja muss und wird also weitergehen.

 

Zur Person: Prof. Dr. Joachim Latacz hatte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Griechische Philologie an der Universität Basel inne. Er war zeitweilig Co-Redakteur der „Studia Troïca“ und ist Begründer und derzeitiger Co-Direktor des Basler Ilias-Kommentars, daneben Autor unter anderem des Standardwerks „Troia und Homer“ (6. Aufl. 2010; Übersetzungen in mehrere Sprachen). Er arbeitete eng mit Manfred Korfmann († 2005) während dessen Grabungskampagnen zusammen und ist bis heute an der Auswertung der Funde beteiligt.

Die Fotos, auch das kleine Vorschaubild, stellte mit freundlicher Genehmigung der derzeitige Troja-Grabungsleiter Prof. Rüstem Aslan zur Verfügung.

 

Interview: Franz Metzger

Zuletzt geändert: 22.02.2015