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Das Zarenreich lag in seinen letzten Zügen

Russland im Ersten Weltkrieg

Russland hätte genügend Soldaten gehabt, um den Ersten Weltkrieg gewinnen zu können. Aber ihnen mangelte es an Ausrüstung, Führung und Moral. Als 1917 die Russische Revolution ausbricht, kommt es an der Front zu Auflösungserscheinungen.

Bundesarchiv, Bild 183-S34205 / CC-BY-SA 3.0

Deutsche Soldaten im Ersten Weltkrieg 1914 auf dem Weg an die Ostfront | © Wikimedia Commons, Bundesarchiv Bild 183-S34205, CC-BY-SA 3.0

Während die deutsche Armee bei Tannenberg die Russen besiegte und aus Ostpreußen vertrieb, geriet der Bündnispartner Österreich-Ungarn in immer größere Kalamitäten. Mitte August 1914 scheiterte der erste k. u. k. Angriff auf das kleine Serbien kläglich: 40 000 tote und verwundete Soldaten zählte das Bundesheer, zahllose Gewehre, Geschütze sowie Munition fielen in die Hände des Feindes.

Noch schlimmer: Mitte September endete der Vorstoß gegen Russisch-Polen von Galizien aus im Desaster. Die österreichisch-ungarische Armee musste sich bis an die Karpaten zurückziehen. Die wichtige Stadt Lemberg (Lwow) ging verloren, Russland belagerte zudem die Festung Przemysl. Fast demütigender noch als die 350 000 verlorenen Soldaten war für den k. u. k. Oberbefehlshaber Franz Conrad von Hötzendorf das Hilfeersuchen an Deutschland. Denn von jetzt an hatte sich das große Österreich-Ungarn an die Rolle des Juniorpartners von Preußen-Deutschland zu gewöhnen. Zwei Jahre später übernahm die Oberste Heeresleitung (OHL) das Kommando auch offiziell. Damit hatte niemand gerechnet, am allerwenigsten Österreich. Nach der Mobilisierung standen immerhin 1,3 Millionen Soldaten unter dem Banner der Doppelmonarchie. Doch in den ersten Kriegsmonaten fielen mit zahlreichen Soldaten auch viele Offiziere. Ihren Nachfolgern fehlte häufig nicht nur die Erfahrung, sondern auch das Gespür für die Probleme einer Vielvölkerarmee.

Viele Wehrpflichtige konnten gar nicht eingezogen werden

So konnte ein Viertel der Wehrpflichtigen weder lesen noch schreiben. Deutsch oder Ungarisch sprach nur ein Teil der Soldaten, wohl aber die meisten Offiziere. Die Männer slawischer Herkunft wie Tschechen, Polen oder Rumänen standen dem russischen Feind kulturell näher als dem österreichisch-ungarischen Kaiserreich. Ein weiteres k. u. k. Manko: Neben dem industriellen Rückgrat für eine längere Kriegsdauer fehlten Eisenbahnstrecken für schnelle Truppenbewegungen.

Eher noch schlechter schien jedoch der Zustand der russischen Armee. Nicht zahlenmäßig, denn auch hier standen 1,3 Millionen Männer zu Kriegsbeginn unter Waffen, die Reserve zählte noch einmal vier Millionen. Theoretisch verfügte Russland sogar über 24 Millionen wehrfähige Männer. Doch aus unterschiedlichen Gründen konnten die meisten nicht eingezogen werden, die Muslime zum Beispiel aufgrund ihrer Religion. Die Millionenverluste auf den Schlachtfeldern konnte das Zarenreich über die Jahre daher nur gerade so ausgleichen.

Russland schickte Soldaten teils ohne Gewehre an die Front

Dramatisch schlecht war bis weit in das Jahr 1915 hinein, bis die russische Rüstungsproduktion einigermaßen den Erfordernissen des Kriegs entsprach, die Versorgung mit Waffen. 70 000 Gewehre wurden monatlich ausgeliefert, gebraucht worden wären aber 200 000 Stück. So schickte die russische Heeresleitung (Stawka) ihre Soldaten häufig ohne Gewehre und nur notdürftig ausgebildet gegen den Feind.

Der hohe Verlust an Front-Offizieren belastete die Armee zusätzlich. Führungspositionen wurden nur an politisch zuverlässiges Personal vergeben. Mitten durchs Offizierskorps verlief ein tiefer sozialer Graben: Die höchsten Ränge nahm der Adel ein, ohne aber direkt an der Front zu stehen. Die niederen Ränge, von Kleinbürgern und Bauern besetzt, waren schnell aufgerieben. 1916, im dritten Kriegsjahr, standen einem russischen Regiment mit 3000 Soldaten im Schnitt nur zwölf Offiziere zur Verfügung. Normal wäre die fünffache Zahl gewesen.

Im Osten verlief der Krieg ganz anders als im Westen

An der Ostfront verlief der Krieg komplett anders als in Westeuropa. Allein die Länge der Konfliktlinie machte einen Stellungs- und Grabenkrieg unmöglich. Denn der Frontverlauf für die Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn gegenüber dem Zarenreich erstreckte sich über fast 1000 Kilometer von der Ostsee bis in die östlichen Karpaten. Alle Seiten setzten immer wieder auf schnelle Vorstöße. Der Frontverlauf änderte sich oft täglich. Beispiel Oktober 1914: Um ihren Bündnispartner zu entlasten, marschieren die Deutschen mit der unter August von Mackensen neu formierten 9. Armee auf Warschau. Zehn Kilometer vor der Millionenstadt werden sie von den russischen Verteidigern gestoppt und zurückgeschlagen.

Erst im Sommer 1915, nach zahlreichen anderen, verlustreichen Schlachten, gelingt den Mittelmächten ein großer strategischer Erfolg. Zwischen Juni und September werden die Russen aus Polen und Litauen vertrieben. Warschau fällt am 5. August, genau einhundert Jahre nach der russischen Inbesitznahme von 1815. Nun steht die deutsche Armee tief auf fremdem Boden. Den Soldaten bietet sich eine unbekannte Welt, auf die sie nicht vorbereitet sind: eine flache, endlose Landschaft mit vielen Flüssen und Sumpfgebieten; eine Vielzahl von Völkerschaften mit ganz unterschiedlichen Sprachen; Urwälder mit Wölfen, Bären und Wisenten. Dazu die ständige Gefahr, von den omnipräsenten Läusen mit Fleckfieber angesteckt zu werden. Der auf einen Eisenbahnwaggon gekritzelte Spottvers bringt das Erstaunen zum Ausdruck: „Zar, es ist ’ne Affenschande, dass wir dich und deine Bande müssen erst desinfizieren und dann gründlich kultivieren“.

Riesige Verluste an Soldaten und viele Flüchtlinge

Die deutschen Militärs Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff richten das Gebiet „Ober(befehlshaber) Ost“ ein und machen sich daran, „deutsche“ Kultur und „deutsche“ Bürokratie unter dem Vorzeichen einer Militärdiktatur zu verbreiten. Sprache und Kultur der einheimischen Bevölkerung werden unterdrückt. Für manche Historiker ein Vorbote für das, was die Nazis im Zweiten Weltkrieg im Osten Europas zu vollenden gedachten. Die für Deutschland so erfolgreiche „Offensive von Gorlice-Tarnow“ brannte sich in Russland als „Der Große Rückzug“ ins kollektive Gedächtnis. Riesigen Verlusten an Soldaten und Material standen ebenso hohe Flüchtlingszahlen gegenüber.

Die Stawka musste umdenken und erlaubte im Juni 1916 dem aufstrebenden General Alexej Brussilow eine neue Taktik. Die „Brussilow-Offensive“ führte anfangs tatsächlich zu einem Durchbruch und Geländegewinnen von bis zu 100 Kilometern Tiefe im Osten und Norden von Galizien. Doch spätestens im September hatte es damit ein Ende. Der Nachschub stockte, der Gegner hatte sich auf die neue Taktik eingestellt und von der Westfront Verstärkung geholt. Eine Million russische Soldaten fielen oder gerieten in Gefangenschaft. Die Unruhe in der Armee des Zaren nahm zu.

Rumäniens Kriegseintritt machte die Situation noch schlimmer

Rumäniens Kriegseintritt an der Seite des Zarenreiches im August 1916 verschlimmerte Russlands Situation noch: Auf einen Schlag wurde die Front um 400 Kilometer verlängert. Anstelle einer Entlastung wurde Rumänien zur Belastung. Schon Ende 1916 stand es unter der Kontrolle der Mittelmächte. Russlands letzte offensive Aktionen im Sommer 1917 führte Alexander Kerenski an, der glücklose Februarrevolutionär. Die „Kerenski-Offensive“ teilte allerdings das Schicksal der „Brussilow-Offensive“: schlecht vorbereitet, früh gescheitert. Am Ende eroberte die deutsche Armee Riga und war kurz davor, nach St. Petersburg zu marschieren. Die Auflösung der demoralisierten russischen Armee sowie die Oktoberrevolution machten das weitere Vorrücken der Deutschen jedoch überflüssig.

Im März 1918 akzeptierte Russland in Brest-Litowsk den von Deutschland aufgezwungenen Frieden. Polen, das Baltikum, Finnland und die Ukraine gingen verloren – entweder wurden diese Gebiete unabhängig oder fielen unter die Kontrolle der Mittelmächte. Während in Russland nun ein Bürgerkrieg einsetzte, der sein Land mehr Menschen das Leben kostete als die Jahre des Weltkriegs, konnte Deutschland sich auf den als viel wichtiger eingeschätzten Kriegsschauplatz im Westen konzentrieren. 80 Divisionen waren dafür nun frei.

Ulrich Graser

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 11/2013 „Der Erste Weltkrieg“

Zuletzt geändert: 26.10.2016