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Das Ende von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit

Vichy-Frankreich

Nach der vorläufigen Niederlage Frankreichs im Zweiten Weltkrieg regierte das sogenannte Vichy-Regime das Land, das mit den Nationalsozialisten kollaborierte.

Bundesarchiv, Bild 183-H25217 / CC-BY-SA 3.0

Philippe Pétain und Adolf Hitler am 24. Oktober 1940 in Montoire, in der Mitte Paul-Otto Schmidt als Dolmetscher, rechts Joachim von Ribbentrop | © Bundesarchiv, Bild 183-H25217 / CC-BY-SA 3.0

 

60 Prozent des französischen Territoriums waren von der deutschen Wehrmacht besetzt, das restliche Gebiet und das gesamte Kolonialreich unterstanden schließlich dem Vichy-Regime. „Diese erste Zusammenkunft zwischen dem Sieger und dem Besiegten markiert die Wiederaufrichtung unseres Landes. Freiwillig habe ich mich auf Einladung mit dem Führer getroffen […] Die Kollaboration ist zwischen unseren beiden Ländern in Betracht gezogen worden. Ich habe das Prinzip akzeptiert […] Dieses ist meine Politik. Die Geschichte wird mich allein dafür beurteilen.“ In dieser Rundfunkrede informierte der französische Staatschef Marschall Philippe Pétain seine Landsleute über ein Treffen mit Adolf Hitler am 24. Oktober 1940 im Bahnhof von Montoire-sur-le-Loir nördlich von Tours (Abbildung oben). Der stellvertretende Ministerpräsident Pierre Laval hatte die Begegnung organisiert.

Montoire-sur-le-Loir liegt rund 265 Kilometer Luftlinie von Vichy entfernt, einem Kurort mit mehr als 300 Hotels. Die französische Regierung hatte sich zunächst vor den anrückenden deutschen Truppen nach Bordeaux zurückgezogen. In Vichy gab es genügend Unterkünfte für die Ministerialbeamten und Offiziere – so zog die Regierung der von Deutschland nicht besetzten Gebiete nach Vichy um. Der Ministerpräsident Paul Reynaud war am 16. Juni 1940 zurückgetreten. Pétain hatte vom Staatspräsidenten Albert François Lebrun den Auftrag zur Bildung einer Regierung erhalten. Der Politiker war als „Sieger von Verdun“ ein Held des Ersten Weltkriegs und hatte danach als Generalinspekteur der Armee genau die französische Defensivstrategie geprägt, die zur Niederlage seines Landes führte.

Frankreich wurde geteilt und musste abrüsten

Noch am 16. Juni hatte der greise General Kontakt zu den Deutschen aufgenommen, um die Bedingungen für den Waffenstillstand zu erörtern, der dann sechs Tage später ratifiziert wurde. Der Inhalt: Frankreich wurde in eine deutsche Besatzungszone und eine unbesetzte Zone geteilt, es musste radikal zu Land und zur See abrüsten, Elsass-Lothringen fiel ans Reich, und die Besatzungskosten von täglich 20 Millionen Reichsmark hatten die Franzosen zu tragen. Das koloniale Imperium zwischen Nordafrika und Indochina sollte weiterhin in französischer Hand bleiben.

„Eine neue Ordnung beginnt“, erklärte Pétain drei Tage nach dem Waffenstillstand. Diese „neue Ordnung“ erwies sich als autoritäres Regime. Am 10. und 11. Juli 1940 trafen sich im Kasino von Vichy 671 Abgeordnete der Nationalversammlung. Mit einer Mehrheit von 570 Stimmen statteten sie Pétain mit unbeschränkter Macht aus. Die Verfassung wurde außer Kraft gesetzt, und aus der Republik der französische Staat mit Pétain als Staatschef. Eine neue Verfassung sollte „die Rechte der Arbeit, der Familie und des Vaterlandes garantieren“. Das ersetzte die Prinzipien von „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ aus der Französischen Revolution. Vichy wurde zu einem Polizeistaat – und abhängig von der Gunst Deutschlands.

Pétain wollte vom Sieg der Nationalsozialisten profitieren

Pétain berief Pierre Laval zum stellvertretenden Ministerpräsidenten. Beide hofften, von einem Sieg der Deutschen profitieren zu können. Pétain wollte die Unabhängigkeit des verbliebenen französischen Staates erhalten und die französischen Kolonien sichern. Laval setzte immer stärker auf eine Annäherung an Hitler-Deutschland. Die gravierenden Meinungsunterschiede führten dazu, dass Pétain im Dezember 1940 Laval wieder entließ. Im August 1941 unterstrich der Staatschef in einer Rede noch einmal die Kollaboration: Sie sei „ein Werk für die Zukunft, das noch nicht alle seine Früchte tragen konnte“. Doch der deutschen Führung ging die Zusammenarbeit nicht weit genug.

Am 18. April 1942 wurde auf Druck aus Berlin Pierre Laval zum Ministerpräsidenten der Vichy-Regierung berufen. Mehr und mehr gingen die Entscheidungen auf ihn über. Pétain geriet immer mehr in den Hintergrund. Vichy war nunmehr ein Vasallenstaat der Deutschen. Auf deutscher Seite zog der Botschafter Otto Abetz in Paris viele Fäden. Auch kulturell versuchten die Verantwortlichen, das Land gleichzuschalten: Etwa 1000 Buchtitel wurden vom Markt verbannt, die Hälfte der kursierenden Filme aus dem Verkehr gezogen. Straff organisiert war die zentrale Wirtschaftsplanung. In der Industrie trieben Organisationskomitees unter der Leitung einflussreicher Unternehmer die wirtschaftliche Kollaboration voran. Gewerkschaften gab es keine mehr. Unzählige Betriebe im Land lieferten ausschließlich dem deutschen Militär zu. Die Stahlwerke arbeiteten zu 100 Prozent für den deutschen Bedarf, Chemieunternehmen zu 70 Prozent und Gummibetriebe zu 65 Prozent.

Facharbeiter im Tausch gegen Kriegsgefangene

Im Juni 1942 begann unter Ministerpräsident Laval die Relève. Für drei freiwillige französische Facharbeiter, die nach Deutschland zum Arbeiten gingen, wurde ein Kriegsgefangener freigelassen. Nur wenige Arbeiter ließen sich darauf ein. Schließlich rekrutierte ein Zwangsarbeitsdienst, der Service du travail obligatoire, Nachschub an Arbeitskräften für Deutschland. Ganze Jahrgänge wurden einbezogen. Immer mehr Franzosen wandten sich vom Vichy-Regime ab. War das die „Arbeit“, die Pétain und Laval als Parole ausgegeben hatten?

Aber nicht nur Arbeiter wurden im Vichy-Regime durch die Deutschen „rekrutiert“. Auch die Wehrmacht warb eifrig für die Französische Freiwilligenlegion im Kampf gegen den Bolschewismus. Doch der Erfolg blieb deutlich hinter den deutschen Erwartungen zurück, da das Vichy-Regime die Rekrutierung nur sehr halbherzig unterstützte.

Rassismus wurde zur Leitlinie des Vichy-Regimes

Deutschland diente in vielerlei Hinsicht als Vorbild. Rassismus wurde eine Leitlinie des Vichy-Regimes. Juden wurden von der Regierung in Vichy als „Fremde“ und „Ausländer“ begriffen, die im „Vaterland“ nichts zu suchen haben sollten. Vor allem Laval galt als die treibende Kraft dieser Politik. Mitte 1940 lebten unter der Kontrolle des Vichy-Regimes etwa 700 000 Juden, davon 330 000 im Mutterland und 370 000 in den Kolonien – vor allem in Nordafrika. Viele waren aus Polen, Rumänien und Russland nach Frankreich geflohen. Ab September wurden alle registriert. Ein „Judenstatut“ vom 7. Oktober 1940 degradierte sie zu Bürgern zweiter Klasse, die von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen wurden. Auf deutschen Druck hin folgte am 22. Juli 1941 in beiden Teilen Frankreichs eine „Arisierung“ der Wirtschaft. Unzählige Juden wurden verhaftet und in Internierungslager gebracht. Insgesamt wurden rund 76 000 Juden aus Frankreich deportiert und zum größten Teil nach Auschwitz – und damit in den Tod – geschickt.

Die Kollaboration isolierte das Vichy-Regime zunehmend. Die USA, die lange Pétain als Vertreter Frankreichs anerkannten, zogen nach der Berufung Lavals zum Ministerpräsidenten ihren Botschafter aus Vichy ab. Im August 1942 gab Laval der Gestapo freie Hand, Mitglieder des Widerstands im Gebiet von Vichy zu verfolgen.

De Gaulle begnadigte Pétain

Als Antwort auf die Landung der Alliierten in Marokko und Algerien besetzten am 11. November 1942 deutsche Truppen mit dem „Unternehmen Anton“ auch den Süden Frankreichs. Das Vichy-Regime existierte nur noch formal weiter, praktisch war nun auch dieses Gebiet besetzt. Die Befreiung Frankreichs durch die Alliierten und die Einsetzung einer provisorischen Regierung unter Charles de Gaulle am 25. August 1944 beendeten die Ära des Vichy-Regimes. Nach dem Krieg wurden Pétain und Laval zum Tod verurteilt. Später begnadigte de Gaulle Pétain und wandelte das Urteil in lebenslange Haft. Pétain starb 1951 im Gefängnis. Laval wurde am 15. Oktober 1945 hingerichtet.

Wolfgang Mayer

Der Artikel erschien erstmals in G/Geschichte 1/2014 „Mythos Blitzkrieg“

 

Zuletzt geändert: 30.06.2016