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Wir sind Neandertaler

Lange hielt man den robusten Eiszeitmenschen für ausgestorben – bis Genetiker sein Erbgut entschlüsselten. Svante Pääbo hat dafür nun den Medizin-Nobelpreis erhalten.

von Karin Feuerstein-Praßer

Verblüffend vertraut: Das Neanderthal Museum präsentiert einen Neandertaler im feinen Anzug. Nur die Steinklinge in der linken Hand irritiert. | Bild: Neanderthal Museum

Den Besuchern des Neanderthal Museums im nordrhein-westfälischen Mettmann fällt der Mann kaum auf. Die Haare flott zurückgekämmt und in einen modernen Anzug gekleidet, lehnt er sich lässig über die Brüstung, als würde er das bunte Treiben um sich herum beobachten. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass es sich um die lebensechte Nachbildung eines Neandertalers handelt. Sicher, mit seiner gedrungenen Gestalt und den wulstigen Augenbrauen sieht er anders aus als wir modernen Menschen, doch nicht so fremd wie vermutet.

Was mögen Neandertaler und Homo sapiens wohl gedacht haben, als sie sich vor vermutlich 55 000 Jahren erstmals begegnet sind: ­Unbehagen, Angst oder Neugier? Allem Anschein nach kannten sie keine größeren ­Berührungsängste und nahmen spontan Kontakt zu den unbekannten Artgenossen auf. Wie eng diese Beziehungen waren, hat der Paläogenetiker ­Svante Pääbo herausgefunden. Als es ihm 2010 gelang, das Neandertaler-­Genom zu entschlüsseln und mit dem des modernen Menschen zu vergleichen, machte er eine verblüffende Entdeckung: Europäer, Asiaten und Australier tragen etwa zwei Prozent Neandertaler-­DNA in ihrem Genom, was bei den Afrikanern nicht der Fall ist, weil der Neandertaler dort nie gelebt hat. Anders ausgedrückt: Homo sapiens und Neandertaler hatten Sex miteinander.

Für Professor Johannes Krause, ­Direktor des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie in ­Leipzig, ist dies der Beweis einer engen Verwandtschaft. Denn wenn Neandertaler und Homo sapiens gemeinsame Kinder zeugen konnten, kann man nicht mehr davon sprechen, dass es sich um verschiedene Arten handelt: „Angebracht ist für Neandertaler und Denisovaner der Begriff Menschheitsformen, da es sich um verschiedene Ausprägungen des Menschen handelt.“

Wir verdanken dem Neandertaler unsere dicke Haut und Diabetes

Was bedeutet das nun konkret für den „Neandertaler in uns“? Welches Erbe hat er uns mitgegeben? Da ist zunächst einmal die helle Haut, die es unserem Körper ermöglicht, auch in sonnenarmen Regionen genügend Vitamin D zu produzieren. Gleichzeitig ist sie etwas dicker als die der Afrikaner, sodass sie besser vor Kälte schützt. Vermutlich handelt es sich auch bei der Körperbehaarung um ein Erbe des Neandertalers.

Das Gleiche trifft auf Teile unseres Immunsystems zu. Es ist sogar wahrscheinlich, dass der aus dem warmen Süden kommende moderne Mensch nur deshalb überlebt hat, weil er Neandertaler-Gene in sich aufnahm. Anders als der Neandertaler war er schließlich zunächst weder auf unbekannte Krankheitserreger noch auf die rauen Klimabedingungen eingestellt. In letzter Konsequenz heißt das: Hätte es keine Vermischung von Homo sapiens und Neandertalern gegeben, hätte der moderne Mensch womöglich keine Chance gehabt, dauerhaft zu überleben.

Evolutionsforscher Svante Pääbo hat für seine Arbeit am Neandertaler-Genom nun den Medizin-Nobelpreis erhalten. | Foto: Karsten Möbius

Die Disposition zu Diabetes Typ 2 ist ebenfalls ein Erbe der Neandertaler. Bekanntlich regelt das von der Bauchspeicheldrüse produzierte Insulin den Blutzuckerspiegel. Während der Eiszeit, als ausreichend Nahrung nicht immer verfügbar war, konnte es ein eindeutiger Überlebensvorteil sein, wenn der Neandertaler seine Zellen mit Zucker fluten konnte. Trotz optimaler Anpassung an seine Umgebung ist der Neandertaler von der Erde verschwunden. Dass die Population einfach zu gering war, um sich ­neben Homo sapiens zu behaupten, wurde bereits erwähnt. Hinzu kommt, dass die einzelnen Clans oft keinen Kontakt zu anderen Familienverbänden hatten, weil sie zu weit voneinander entfernt lebten. So mussten sich die Neandertaler zwangsläufig mit engen Verwandten fortpflanzen – mit allen negativen Folgen für den Genpool.

Ein weiterer Faktor gab wohl den Ausschlag dafür, dass der Neandertaler allmählich im modernen Menschen aufging. Bei der Vermischung hatte er einen entscheidenden Nachteil: Sein männliches Y-Chromosom führte bei der Homo-sapiens-Mutter allem Anschein nach zur Abstoßung des Fötus. Umgekehrt löste das Y-Chromosom des modernen Menschen bei der Neandertalerin keine Fehlgeburt aus. Folge war, dass die zahlenmäßig ohnehin unterlegenen Neandertaler ihren Clan nicht vergrößern konnten, wenn sie sexuellen Kontakt zu Homo-sapiens-Frauen hatten, während Homo-sapiens-Männer den ihrigen verstärkten, wenn sie sich mit Neandertalerinnen fortpflanzten. Man kann also eigentlich nicht davon sprechen, dass der Neandertaler ausgestorben ist. Er lebt in uns weiter.

 

 

Der Artikel stammt aus unserem G/GESCHICHTE-Heft 1/2021 „Die Eiszeit“. Weitere Infos zur Ausgabe hier, bestellbar hier.