Für Stefan Zweig war es das Land der Zukunft, doch immer wieder kam die Vergangenheit dazwischen. Erst blockierten Sklaverei und Zuckerbarone den Fortschritt, später Militär und Korruption.
von Philipp Lichterbeck
Am 3. April 2017 spricht der brasilianische Präsidentschaftskandidat Jair Bolsonaro im Hebräischen Club von Rio de Janeiro. Er berichtet von seinem Besuch in einem Quilombo, einer traditionellen Siedlung von Nachfahren afro-brasilianischer Sklaven. Er sagt: „Der leichteste Afro-Nachkomme dort wog sieben Arrobas. Sie tun nichts. Ich glaube, sie taugen nicht einmal, um sich fortzupflanzen.“ Die Maßeinheit, die Bolsonaro gebraucht, um das Gewicht des Schwarzen anzugeben, „arroba“, ist ein altes portugiesisches Maß, mit dem in Brasilien bis heute Vieh gewogen wird. Die Episode offenbart eine einfältige und rassistische Sicht auf Geschichte und Gesellschaft.
Anderthalb Jahre später wird Bolsonaro zum Präsidenten gewählt. Und er wird das Staatsoberhaupt Brasiliens sein, wenn die Nation an diesem 7. September 2022 seine 200-jährige Unabhängigkeit von Portugal feiert. Darin liegen Symbolik und Tragik. Denn Bolsonaro steht für eine fatale Kontinuität in der brasilianischen Geschichte: die Aufrechterhaltung einer Ordnung, die Wohlstand, Land und Macht in den Händen einer weißen Elite konzentriert.
Es gibt riesige fruchtbare Regionen
Die Geschichte Brasiliens wird oft erzählt als Story eines riesigen Versprechens, das nie erfüllt wurde. Als die Geschichte einer Nation, die wie keine zweite die besten Voraussetzungen hatte, um wohlhabend zu sein. Das Land besitzt gigantische fruchtbare Flächen, unzählige teils riesige Flüsse, eine immense biologische Vielfalt, eine fast 7500 Kilometer lange Küste und eine Bevölkerung, die die verschiedensten Einflüsse vereint.
Warum also ist die Mehrheit der 213 Millionen Brasilianer arm? Wieso sind heute 119 Millionen Brasilianer von Hunger bedroht? Warum konzentriert aber ein Prozent der Menschen 50 Prozent der Einkommen? Und wieso gibt es fast keine Afro-Brasilianer in Führungsposten, obwohl Schwarze mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellen? Das „Land der Zukunft“, von dem der Wiener Schriftsteller Stefan Zweig 1941 schwärmte, weil er hier ein riesiges Potenzial erkannte, wartet bis heute auf seine Zukunft. Warum das so ist, kann die Geschichte erklären.
Die Unabhängigkeit Brasiliens beginnt mit einem Kaiser
Bereits die Geburt der Nation 1822 begann mit einem Makel. Denn im Gegensatz zu den spanischsprachigen Kolonien Lateinamerikas entstand in Brasilien keine Republik, sondern eine Monarchie. Das erste Staatsoberhaupt der neuen Nation war Kaiser Dom Pedro I., vormaliger Kronprinz Portugals.
Daran war indirekt Napoleon schuld. Er hatte 1807 Portugal besetzt, woraufhin der portugiesische König Dom João VI. nach Rio de Janeiro floh, die Hauptstadt der eigenen Kolonie. Mit ihm kam einiger Fortschritt, er öffnete die Häfen, gründete Ministerien, den Obersten Gerichtshof und die Bank von Brasilien. 1815 erhob er Brasilien in den Rang eines Königreichs. Die Siedler begrüßten diese Aufwertung. Wirtschaftlich basierte die Kolonie seit Mitte des 16. Jahrhunderts auf der Zuckerproduktion im brasilianischen Nordosten. Der Zucker versorgte Portugal mit einem Großteil seiner Einnahmen, aber der Anbau wurde von nur wenigen reichen Familien kontrolliert.
Der Goldrausch, der 1695 begonnen hatte, als Vorkommen im heutigen Bundesstaat Minas Gerais entdeckt wurden, war am Beginn des 19. Jahrhunderts verebbt. Aber die Goldeinnahmen hatten zum Aufstieg des brasilianischen Südostens und zur Verlegung der kolonialen Hauptstadt von Salvador nach Rio 1763 geführt.
Die Unabhängigkeit Brasiliens bahnte sich an, als João VI. 1820 nach Portugal zurückkehrte. In Brasilien zurück blieb sein Sohn Pedro. Als das portugiesische Parlament auch Pedro zur Rückkehr nach Lissabon aufforderte, eskalierte die Situation. Pedro hielt eine Rede, die als „Fico“ (Ich bleibe) berühmt wurde. Am 7. September proklamierte er die Unabhängigkeit Brasiliens und wurde zum Kaiser gekrönt.
Als Pedro I. ließ er eine für die damalige Zeit fortschrittliche Verfassung erarbeiten, und die ersten Jahrzehnte des neuen Staats verliefen weitaus weniger chaotisch als in den spanischsprachigen Republiken. Dennoch sank die Popularität Pedros. Zum Unmut der Zuckerbarone hatte er Handelsverträge mit England abgeschlossen, in denen er versicherte, den Import von Sklaven zu beenden. Die Sklavenhändler dachten jedoch nicht daran und führten ihr Geschäft, nun etwas diskreter, bis etwa 1850 fort.
1831 dankte Pedro zugunsten seines fünfjährigen Sohnes Pedro de Alcântara ab. Neun Jahre später übernahm dieser die Regierungsgeschäfte, und es begann eine Ära, die als eine der fruchtbarsten Brasiliens gilt. Pedro II. war ein aufgeklärter Monarch, ernst, bescheiden und intellektuell neugierig. Sein relativ kleiner Palast stand in den Bergen bei Rio de Janeiro.
Vier bis fünf Millionen Sklaven werden aus Afrika herangeschafft
Er führte aber auch den brutalen Krieg der Dreierallianz gegen Paraguay zwischen 1864 und 1870. Nach dessen Ende begannen junge Offiziere die ökonomische Rückständigkeit Brasiliens infrage zu stellen. Die Wirtschaft basierte immer noch auf Plantagen und Sklaverei, und die eigentliche Macht im Staat lag bei den Zuckerbaronen. Es war das Wirtschaftsmodell, das sich nach der Ankunft der Portugiesen im Jahr 1500 unter Pedro Álvares Cabral etabliert hatte. Brasilien war Rohstofflieferant. Exportierte es zunächst Brasilholz, das als Farbstoff in Europa diente und Brasilien seinen Namen gab, so übernahm schon bald der Zucker die Rolle als wichtigstes Handelsgut.
Aber für die Zuckerproduktion brauchte man Sklaven. Bereits um 1540 wurden die ersten Afrikaner über den Atlantik gezwungen. Ab nun wuchs der Sklavenhandel stetig. Es wird geschätzt, dass von den rund zwölf Millionen Afrikanern, die in den darauffolgenden 400 Jahren über den Atlantik gebracht wurden, ein Drittel bis die Hälfte nach Brasilien kam. Der Widerstand gegen dieses System wuchs ab den 1860er-Jahren, aber erst 1888 wurde das Ende der Sklaverei per Lei Aurea, dem Goldenen Gesetz, beschlossen. Damit war Brasilien das letzte Land Südamerikas, das die Sklaverei beendete. Dies traf vor allem die Zuckerindustrie, während andere Wirtschaftszweige europäische Immigranten beschäftigten. Zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert wanderten Hunderttausende verarmte Portugiesen, Italiener, Spanier und Deutsche ein. Zugleich wurden rund eine Million Sklaven freigelassen – allerdings ohne Startgeld, Bildung oder Land. Damit war das Fundament für die bis heute andauernde Armut und aller daraus resultierenden Probleme gelegt.
Unter Pedro II. entwickelte sich das Land weiter. Die Bevölkerung wuchs von rund fünf auf 14 Millionen Einwohner an, die Exporte stiegen, ebenso die Staatseinnahmen. Auch die Sozialstruktur wandelte sich: Ein städtisches Großbürgertum sowie die Kaffeepflanzer verlangten mehr politische Mitsprache, und im Militär rumorte es. Man war der Überzeugung, dass eine Republik besser zum aufstrebenden Kapitalismus passe. Ein Staatsstreich zwang Pedro II. schließlich zur Abdankung, und am 15. November 1889 wurde die Republik ausgerufen.
Innerhalb von anderthalb Jahren waren damit die beiden prägenden Institutionen Brasiliens verschwunden: Sklaverei und Monarchie. Es begann eine Periode des Wandels, die als „Neues Brasilien“ bezeichnet wird. Zwar wurde die vertikale Gesellschaftsordnung nicht angetastet, aber es fand eine Machtverschiebung hin zu den Kaffee-Produzenten in São Paulo und Minas Gerais statt. Zu der Zeit begann auch der Aufstieg São Paulos zum Handelszentrum Südamerikas. Unterdessen erlebte die Amazonasregion einen Kautschukboom, der das isolierte Manaus in eine Stadt mit Kinos und Opernhaus verwandelte.
Auf das Ende des Kaffeebooms folgen Revolte und Diktatur
Parallel erlebte Brasilien eine literarische Blüte, etwa mit dem Romancier Machado de Assis oder Euclides da Cunha, der in seinem Meisterwerk „Os Sertões“ vom erbitterten Kampf zwischen Regierungstruppen und einer Gruppe messianischer Separatisten im Hinterland erzählt. Es ging dabei auch um die Kluft zwischen Stadt und Land, den „zwei Brasilien“, die bis heute existieren. Ein anderer, 1936 erschienener Schlüsseltext ist „Die Wurzeln Brasiliens“ des Historikers Sérgio Buarque. Er beschreibt den Archetyp des Brasilianers als „herzlichen Menschen“, womit ein von Sklaverei geprägter Menschentyp gemeint ist, der Widerspruch meidet.
Der Kaffeeboom endete um 1930. Im gleichen Jahr wurde der Politiker Getúlio Vargas durch eine Revolte ins Präsidentenamt gebracht. Er ergriff 1937 diktatorische Befugnisse und drückte dem Land bis zu seinem Tod 1954 den Stempel auf. Seine Regierungszeit wird als „Estado Novo“ (Neuer Staat) bezeichnet und war von Nationalismus und dem Aufbau eines Sozialstaats geprägt.
1950 richtete Brasilien die Fußball-WM aus. Das Endspiel fand im neuen Maracanã-Stadion statt, das den Fortschrittswillen Brasiliens repräsentierte. Ebenso wichtig für das nationale Selbstbewusstsein (sowie die Staatseinnahmen): die 1953 gegründete staatliche Ölgesellschaft Petrobras. Zugleich waren die Jahre von Korruption geprägt, und das Militär forderte Vargas, Rücktritt. Am 24. August 1954 erschoss er sich. Es zeigte sich ein altbekanntes Muster: Das Militär war der entscheidende Machtfaktor in Brasilien.
Gleichwohl waren die Fünfzigerjahre eine Zeit der Modernisierung, was am Bau einer neuen Hauptstadt im Zentrum des Landes zu erkennen war. Brasília, 1960 eingeweiht, stieg zum Symbol für die zukünftige Größe auf. Nur kurze Zeit später beendete das Militär die Demokratie. Am 1. April 1964 putschten die Generäle, unterstützt von den USA. Sie rechtfertigten den Putsch mit kommunistischen Umtrieben der Regierung. 21 Jahre lang beherrschten sie Brasilien. Laut Nationaler Wahrheitskommission wurden in der Zeit 434 politische Gefangene ermordet und fast 8500 Ureinwohner umgebracht. Zehntausende wurden inhaftiert und gefoltert. Juristisch aufgearbeitet wurden die Verbrechen nie.
Plötzlich stürzt die brasilianische Wirtschaft ab
Anfang der Achtzigerjahre fanden Massenproteste gegen die Diktatur statt. 1985 wurde sie, von Wirtschaftskrisen entkräftet, für beendet erklärt. 1988 gab Brasilien sich eine demokratische Verfassung. In den ersten Jahren der Demokratie wurde wieder ein altes Problem deutlich: die Korruption. Als ein Schlüsseljahr gilt 1994, als mit dem Real eine neue Währung eingeführt wurde, um die Inflation zu bekämpfen. Es gelang jedoch nicht, die größte Geißel Brasiliens zu besiegen: die Armut. Noch Anfang des 21. Jahrhunderts starben in Brasilien circa 300 Kinder pro Tag am Hunger und dessen Folgen.
Das Gefühl, dass Brasilien endlich gerechter werden müsse, brachte Lula da Silva von der linken Arbeiterpartei (PT) an die Macht. Der Ex-Gewerkschafter führte Programme zur Bekämpfung der Armut und zur Verbesserung der Bildungschancen für Arme ein. Es waren Jahre des Wachstums, und als Lula 2011 aus dem Amt schied, war Brasilien die sechstgrößte Volkswirtschaft der Welt. Das „Land der Zukunft“ schien seine Rolle gefunden zu haben.
Was folgte, war ein Absturz. Brasilien rutschte in eine Wirtschaftskrise, während eine riesige Korruptionsaffäre rund um die Ölgesellschaft Petrobras ans Licht kam. Bei den Wahlen 2018 erlebte Brasilien auch deshalb einen extremen Rechtsruck. Jair Bolsonaro wurde Präsident, der für ein gesellschaftliches Zurück steht. Er hat massiv Gelder für Sozialprogramme, Bildung und Umweltschutz gekürzt und will stattdessen der Nation, Gott, der traditionellen Familie und dem Militär wieder ihren Stellenwert geben. 200 Jahre nach seiner Unabhängigkeit steht Brasilien damit erneut an einem Scheideweg: Wird es moderner und gerechter, oder verharrt es in seiner Vergangenheit?
Der Text stammt aus der diesjährigen März-Ausgabe von G/GESCHICHTE zum Thema „Die Welfen“. Weitere Infos zur Ausgabe hier, bestellbar hier.