Schon vor dem ersten Kontakt mit den Europäern erschaffen die Irokesen einen staatenähnlichen Bund mit Gesetzen, die bis heute modern wirken. Für ihre Nachbarn ist das keine gute Nachricht.
von Christian Pantle
Der Franzose Isaac Jogues fiel 1642 zusammen mit anderen Missionaren und begleitenden Indianern in die Hände irokesischer Krieger. „Sie führten uns im Triumph in das erste Dorf“, schildert der Jesuitenpater. Die dortigen Bewohner verprügelten die entkleideten Gefangenen mit Stöcken und zwangen sie, sich gegenseitig zu verstümmeln: „Ein alter Mann nahm meine linke Hand und befahl einer Gefangenen vom Algonkin-Stamm, einen meiner Finger abzuschneiden“, erzählt Jogues. „Die Frau drehte sich drei- bis viermal ab, weil sie die Grausamkeit nicht ausführen konnte; schließlich musste sie doch gehorchen und schnitt den Daumen von meiner linken Hand.“
Nach langer Folter entscheidet sich das Schicksal der Gefangenen
Nachts wurden die Gequälten mit ausgestreckten Armen und Beinen am Boden festgebunden. Kinder durften glühende Kohlenstücke auf deren Körper werfen. Drei Tage später wurden sie in ein neues Dorf getrieben, wo neue Foltern auf sie warteten, und dann in ein weiteres Dorf. Im Jahr darauf kam Jogues durch Hilfe eines Niederländers frei – nicht viele hatten solches Glück. In der Regel nahmen die Irokesen einen Gefangenen nach mehreren Tagen sadistisch anmutender Folter entweder im Stamm auf – als Mitglied oder Sklaven – oder sie brachten ihr Opfer langsam und qualvoll um. Etwa indem sie den Mann oder die Frau auf kleiner Flamme rösteten und dann aufaßen.
Die in vielen Berichten geschilderten, unfassbaren Grausamkeiten stellten anscheinend sowohl ein Ritual dar als auch ein Volksvergnügen – dass sie ein Zeichen des Respekts gegenüber den Feinden waren, ist wohl eher ein frommes europäisches Märchen. Kriegertrupps zogen immer wieder los, um ahnungslosen Opfern etwa an Flussufern aufzulauern. Entsprechend verhasst und gefürchtet waren die Irokesen bei den umliegenden Indianervölkern im Nordosten der heutigen USA und im Südosten Kanadas.
Ausgerechnet diese Kriegergesellschaft schuf einen wegweisenden Frieden, der bis heute modern anmutet: Die fünf großen Irokesenstämme – Mohawk, Oneida, Cayuga, Onondaga und Seneca – ersetzten den schier ewigen Kreislauf aus Krieg und Blutrache durch die Herrschaft des Rechts. Das Jahr des Friedensschlusses ist umstritten: Manche Forscher vermuten es um 1451, andere um 1142 oder 1570.
Die Frauen ernennen die Abgeordneten im Bundesrat
Die Initiative ging der Legende nach von dem Seher Deganawida aus: Er soll die Stämme beschworen haben, ein gemeinsames Gesetz zu entwerfen, dem sich alle unterordnen. Einer seiner Anhänger, der Häuptling Hiawatha, setzte die Vision in die Tat um: Er begründete und führte das Fünf-Stämme-Bündnis, genannt Irokesenliga oder Irokesenkonföderation.
Wichtige Entscheidungen fällte darin der „Große Rat“, bestehend aus 50 Friedenshäuptlingen, den Sachem. In der Runde galt die Macht des Wortes, nicht der Waffe. Am Ende mussten die 50 Abgeordneten Einstimmigkeit erreichen. Eine Mehrheit genügte nicht – der Konsens stand über allem.
Ernannt – und abgesetzt – wurden die Friedenshäuptlinge von den Frauen des Stammes. Deren starke Stellung zeigte sich im gesamten gesellschaftlichen Leben: Die Erbfolge war matrilinear, das Vermögen ging also in erster Linie von der Mutter auf die Töchter über. Nach der Hochzeit zog der Mann zur Frau: Die Großfamilien lebten in festen Häusern, die bis zu 90 Meter lang und sechs bis sieben Meter breit waren. Diese Art zu wohnen war kennzeichnend für alle Irokesen, die sich Haudenosaunee („Volk des Langhauses“) nannten. Ihr heute gebräulicher Name stammt wohl von ihren Feinden: Iroqu steht in der Sprache der Algonkin-Indianer für Schlangen und Mörder. Denn weder die Macht der Frauen noch der „Große Friede“ führten dazu, dass die Irokesen friedlicher lebten. Die fünf Stämme konzentrierten stattdessen ihre kriegerische Energie auf die Nichtirokesen und hielten sich dabei gegenseitig den Rücken frei.
Das Bündnis wurde so zu einer regelrechten Großmacht. Die Stämme eigneten sich die fruchtbaren Ackerländer um den Ontariosee an, pflanzten Mais, Bohnen, Kürbis und Tabak. Von circa 1640 bis 1701 führten sie den sogenannten Biberkrieg gegen ihre Nachbarn, um sich die Kontrolle über den lukrativen Pelzhandel mit den Europäern zu sichern. Die Irokesenkonföderation vertrieb ganze Völker und dehnte ihr Territorium bis zum Mississippi aus. 1722 schlossen sich die Tuscarora als sechster Stamm dem Bündnis an.
Klug taktierend nutzen die Irokesen die Rivalität der Europäer
1754 begann in der Region der britisch-französische Kolonialkrieg. Die Franzosen verbündeten sich mit den Algonkin und Huronen, also den Erzfeinden der Irokesen. Diese standen nominell aufseiten der Briten, schafften es aber durch kluges Taktieren, eine gewisse Neutralität zu bewahren und die europäischen Mächte gegeneinander auszuspielen. So gelangten sie an Gewehre und konnten ihre Autonomie bewahren.
Während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs von 1775 bis 1782 allerdings zerfiel die Irokesenkonföderation: Zwei Stämme unterstützten die Amerikaner, vier die unterlegenen Briten. Sie wurden zurückgedrängt und mussten in die zugewiesenen Reservate, zum Teil nach Kanada, ziehen.
Der US-Politiker Benjamin Franklin hatte schon in den 1750er-Jahren mit Abgeordneten der Irokesen verhandelt – und war sichtlich beeindruckt. „Wenn sechs Nationen unwissender Wilder fähig sind, die richtige Staatsform für eine solche Union zu finden und sie zudem so zu praktizieren, dass sie Jahrhunderte überdauert“, schrieb er, „wäre es doch seltsam, wenn eine solche Union nicht auch für die zehn oder zwölf englischen Kolonien anwendbar wäre.“ Franklin wurde zu einem der Väter der amerikanischen Verfassung.
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