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Triage im US-Bürgerkrieg

Die neue Schlachtfeld-Medizin

Seit Beginn der Corona-Krise warnen Ärzte davor, im schlimmsten Fall Patienten aussortieren zu müssen. Solch eine „Triage“ wirkt heute unmenschlich, galt aber früher als großer Fortschritt. Beim Blick auf das Sanitätssystem im Amerikanischen Bürgerkrieg wird deutlich, warum. 

von Jochen Oppermann

Einheiten des "Ambulance Corps" der Nordstaaten bergen verwundete Soldaten vom Schlachtfeld

Einheiten des „Ambulance Corps“ der Nordstaaten bergen verwundete Soldaten vom Schlachtfeld | © Library of congress/William Frank Browne

„Diesen Kampf habe ich verloren“, gestand Südstaatengeneral Robert E. Lee nach der Schlacht bei Gettysburg, die die Wende­ im Amerikanischen Bürgerkrieg zugunsten der Nordstaaten einleitete. Diese Schlacht stellte zugleich einen Wendepunkt auf dem Feld der medizinischen Versorgung dar. Maßgeblich dafür verantwortlich war der Arzt und Major Jonathan Letterman, der zu Beginn des Bürgerkrieges für die ärztliche und medizinische Versorgung der Potomac-Armee der Union eingeteilt war.

Verwundete liegen zu lange auf dem Schlachtfeld

Bei der ersten großen Schlacht, der Sieben-Tage-Schlacht im Juni 1862, hatten sich gravierende Mängel bei der Bergung der Soldaten gezeigt. Viel zu viele Verwundete lagen noch Tage nach den Kämpfen unversorgt im Freien, bis sie geborgen wurden. Meist kümmerten sich Angehörige des Musikkorps um die Verletzten oder andere, die kaum ausgebildet in der Erstbehandlung waren. In den Sanitätszelten war es Glückssache, ob und wie man von den viel zu wenigen Ärzten behandelt wurde.

Porträt: Arzt und Major Jonathan Letterman

Der Arzt und Major Jonathan Letterman revolutioniert im Amerikanischen Bürgerkrieg das Sanitätssystem auf den Schlachtfeldern. | © Wikimedia/U.S. Army Medical Museum

Um das Chaos zu verringern, ließ Letterman schon im September 1862 bei der Schlacht am Antietam ein System von Erste-Hilfe-Stationen einrichten, wo die Prinzipien der „Triage“ umgesetzt wurden. Als „Triage“ bezeichnet man die Sichtung der Verwundeten auf dem Schlachtfeld und deren Einteilung nach Dringlichkeit. Sie hatte schon bei den Feldzügen Napoleons Anwendung gefunden. Schwerverwundete gelangten so schneller zum Chirurgen, während leichter Verwundete zunächst behelfsmäßig versorgt wurden. Die Einteilung fand direkt vor Ort statt, sodass der Transport zu den rückwärtigen Feldlazaretten geordnet ablaufen konnte.

Zeitgleich wurde das U.S. Ambulance Corps eingeführt, das die rasche Bergung der Verwundeten zur Aufgabe hatte. Schon bei der Schlacht von ­Fredericksburg im Dezember 1862 bewährte sich Lettermans System. Es wurde daraufhin von anderen Unionsarmeen übernommen.

Lettermans Konzept ist erfolgreich: Wesentlich mehr Verletzte als zuvor können überleben

Die größte Bewährungsprobe für das neue System begann am Morgen des 1. Juli 1863. In den folgenden drei Tagen sollten in Gettysburg unzählige sogenannte „minié balls“ Knochen und Organe zerfetzen und unsägliches Leid verursachen. Die Minié-Kugel war ein rund 30 Gramm schweres Bleigeschoss. Zusammen mit 4 Gramm Schwarzpulver wurde es in einer Papierpatrone mithilfe eines Ladestocks in den Gewehrlauf gedrückt. Das Minié-Geschoss ließ sich leichter und schneller in den Lauf einführen als ältere Geschosse, die effektive Reichweite stieg mit ihm um 200 Meter. Waren die Bleikugeln zuvor in den Körper eingedrungen und steckengeblieben oder hatten einen Knochen gebrochen, so zerschmetterten die „minnie-balls“ auf ihrem Weg alle organischen Strukturen, weil sie mit einer größeren Wucht und stabileren Flugbahn auftrafen. Je nach Entfernung konnte eine Kugel sogar mehrere Soldaten hintereinander durchschießen. Amputationen waren die einzige bekannte Methode, bei solchen Verletzungen das Leben der Soldaten zu ­retten. Unzählige Geschichten sind überliefert, in denen Verwundete die Ärzte anflehten, nicht den Arm oder das Bein abzuschneiden. Auch deswegen bekamen die Ärzte in den Lazaretten den lieblosen Spitznamen butchers – Schlachter.

 

Die „minié balls“ zerfetzten Knochen und Organe. Eine einzige Kugel konnte mehrere Soldaten hintereinander durchlöchern | © Wikimedia/National Institutes of Health, wikimedia/Mike cumpston

 

 

 

 

 

 

In den Genfer Konventionen wurden im August 1864 Regeln für den Schutz von Personen in bewaffneten Konflikten beschlossen. Für den Amerikanischen Bürgerkrieg und Gettys­burg kamen solche Bestrebungen aber zu spät. Wenigstens standen mit Äther und Chloroform seit einigen Jahren­ Betäubungsmittel für die Amputationen zur Verfügung. Und trotz allen Schreckens zeigte die Schlacht von Gettysburg, dass Lettermans Konzept griff. Waren im Vorjahr noch 33 Prozent der Verwundeten gestorben, verringerte sich diese Rate auf nunmehr zwei Prozent. Am 3. Oktober 1863 schrieb Letterman in seinem berühmten Report an das Repräsentantenhaus, „dass kein einziger verwundeter Mann von all dieser Zahl am frühen Morgen des 4. Juli in unseren Reihen auf dem Feld zurückgeblieben war“.

Das System der „Schlachtfeld-Medizin“ wird zum Standard

Zelte in Gettysburg

Das Lazarett in Gettysburg, 1863 | © Library of Congress

In dem riesigen Lazarett, das bei Gettysburg noch während der Schlacht entstanden war, wurden aber nicht nur die körperlichen Wunden versorgt, sondern auch die seelischen. Sowohl Unionssoldaten als auch die Konföderierten wurden im „Camp Letterman“ behandelt. Gemeinsame Spiele und ein Picknick zwischen den einstigen Feinden sind bezeugt. So war die Schlacht bei Gettysburg trotz aller Leiden ein wichtiger Schritt hin zu einer umfassenden Militärmedizin.

Letterman selbst konnte weder privat noch beruflich von seiner Arbeit profitieren. Nach dem frühen Tod seiner Frau Mary wurde er depressiv und vereinsamte. Der „Vater der Schlachtfeld-Medizin“ starb 1872 in San Francisco mit nur 47 Jahren. Sein System der Bergung und Versorgung Verwun­deter war da bereits in vielen Armeen Standard.

 

 

Sie wollen mehr über den Bruderkrieg zwischen Norden und Süden wissen? Dann schauen Sie in unser G/GESCHICHTE-Heft zum Amerikanischen Bürgerkrieg