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Angriff der Killerviren

Die Spanische Grippe

Lange vor Corona hielt ein Virus die Menschheit in Atem, von dem jetzt viel die Rede ist: die Spanische Grippe 1918/1919. Sie forderte mehr Todesopfer als jede Pestwelle und war das größte Massaker, das Krankheitserreger je unter der Menschheit anrichteten. Und doch bleibt die Pandemie von 1918/1919 eine Fußnote im Schatten des Weltkriegs.

von Franz Metzger

In einem Armeelazarett in Kansas füllen sich während der Spanischen Grippe die Krankenbetten. Eine Reihe von Forschern vermutet, dass die Pandemie in dem US-Bundesstaat ihren Anfang nahm | © Wikimedia/National Museum of Health and Medicine

Militärlager Fort Funston, Kansas, USA, am 4. März 1918. Ein Soldat hat eben das Zimmer des Stationsarztes betreten: „Name?“ – „Gefreiter Gitchell, Albert“ – „Einheit?“ – „Koch in der Kantine“ – „Was fehlt Ihnen?“ – „Ich fühl’ mich furchtbar. Kopfweh, Schwindel, hab’, glaub’ ich, auch Fieber“. Der Mediziner wirft einen scharfen Blick auf den Patienten. Hat der eventuell eine raue Nacht hinter sich und will sich nur vor der Arbeit drücken? Doch das Fieber ist echt, wie sich der Arzt durch eine Berührung der Stirn versichert: „Ab ins Lazarett!“

Gitchell bleibt nicht lange allein. Noch am selben Tag sind sämtliche Betten der Krankenstation von seinen Kameraden belegt, die ähnliche Symptome zeigen. Am nächsten Tag steigt die Zahl der kranken Soldaten auf mehr als 500, eine Lagerhalle muss als Notlazarett dienen.

Auch wenn die Symptome der Erkrankten nicht immer gleich waren, so ließ vor allem das Tempo der Ausbreitung den Rückschluss auf einen Grippeerreger zu – einen besonders bösartigen, wie die ersten Todesfälle unter den jungen, kräftigen Rekruten tragisch demonstrierten. Und ihnen würden Millionen in ein frühzeitiges Grab folgen.

„In wenigen Tagen war die Hälfte der Mannschaft erkrankt“

Tatsächlich hatte sich das Virus einen perfekten Zeitpunkt ausgewählt um zuzuschlagen: Die Kriegssituation brachte große Menschenmassen in Kasernen und Trainingslagern zusammen, und diese Massen wurden ständig hin und her verschoben, bei offenem Kontakt zu Zivilisten. Das Virus benötigte so auch nur sieben Tage, um von Kansas nach New York zu gelangen. Die Millionenstadt bot ihm eine üppige Zahl potenzieller Wirte, zumal die Transportschiffe in diesen Wochen eine Million US-Soldaten an die Westfront brachten. Dort starben dann mehr GIs an der Grippe und ihren Folgen als durch feindliche Einwirkung.

Neben ihnen starben britische („Tommys“) und französische Soldaten („Poilus“) in den Frontlazaretten, aber auch mehr und mehr Zivilisten an der sogenannten Heimatfront. Das Virus schaffte zudem mit Leichtigkeit, woran Trommelfeuer und Sturmangriffe vier Jahre lang gescheitert waren: die Frontlinie zu durchbrechen. „Da die unterernährten, entkräfteten Körper der Krankheit keinen Widerstand leisten konnten, war in wenigen Tagen die Hälfte der Mannschaft erkrankt. Von einer Pflege war keine Rede“, berichtet der deutsche Soldat Dominik Richert über die Wirkung des neuen, unsichtbaren Feindes.

Unterernährt und entkräftet war auch die Zivilbevölkerung, die der Grippe wenig Widerstand leisten konnte. Ein Augenzeuge erzählt, dass während einer Straßenbahnfahrt in München sechs Mitreisende kollabierten, und ein Lehrer erlebt im Klassenzimmer: „Sie fielen einfach mit ihrem Körper nach vorn auf das Pult ihrer Bank, wie eine Pflanze, der man die Wurzeln vergiftet hat.“

Die Mortalität war besonders bei den jüngeren, kräftigen Individuen erschreckend hoch

Nach einer Atempause im Sommer kehrte im Herbst die Seuche mit noch größerer und schockierender Wucht zurück: „Die Mortalität war erschreckend hoch, und bemerkenswerterweise traf dieses Schicksal zumeist jüngere, kräftige Individuen“, steht in einem Bericht des Krankenhauses München-Schwabing. Normalerweise töten Infektionen vor allem Kleinkinder und alte Menschen – jetzt traf es die bereits vom Krieg dezimierte Generation zwischen 20 und 40. Das mochte zum Teil an der Grippepandemie von 1889 / 1890 gelegen haben, die ältere Menschen immunisiert haben könnte. Die Forschung vermutet aber, dass das stärkere Immunsystem der Jungen auf die hohe Aggressivität des Virus überreagiert und seine Träger sozusagen vergiftet hat – daher auch die erschreckende blau-violette Verfärbung der Sterbenden.

Helfen konnten Ärzte und Pflegepersonal wenig. Im Gegenteil: Viele fielen selbst der Seuche zum Opfer. Das fiebersenkende Wundermittel Aspirin wurde mitunter in so hohen Dosen verabreicht, dass es zu inneren Blutungen führte. Die Behandlung erhöhte so die Zahl der Toten weiter, die mitunter, wie in alten Pestzeiten, in Karren eingesammelt und in Massengräbern beigesetzt wurden.

Ebenso wenig halfen traditionelle Mittel. Im spanischen Zamora rief der Bischof zu einer Bußprozession auf, bei der die Gläubigen reihum die Gebeine des Ortsheiligen küssten und so die Infektionskette noch beschleunigten.

Wie diese Polizisten in Seattle versuchen Menschen weltweit, sich mit einem Mundschutz vor der Ansteckung zu bewahren | © Wikimedia

Die Pandemie war überall – in China, Brasilien, Westsamoa

Das verheerende Ausmaß der Pandemie blieb den Menschen in den kriegführenden Ländern wegen der strengen Pressezensur verborgen. Im neutralen Spanien dagegen wurde frei berichtet, vor allem als im Frühjahr 1918 König Alphons XIII. und das halbe Kabinett an der Infektion erkrankten. Das Medienecho verpasste der Pandemie aus diesem Grund den Namen „Spanische Grippe“, mit dem sie in die Geschichtsbücher einging.

Ob kriegführend oder nicht – Ende 1918 gab es praktisch keine Nation der Erde mehr, die vom Grippevirus verschont geblieben war. Es wütete in Britisch–Indien mit seinen engen Kontakten zum europäischen Kriegsschauplatz ebenso wie im neutralen Brasilien oder in China. In Westsamoa starb jeder fünfte Einwohner; in Kanada wurden einige Gemeinschaften der Urbevölkerung völlig ausgelöscht. Schätzungen einiger Forscher gehen davon aus, dass sich rund ein Drittel der damaligen Weltbevölkerung, also rund 500 Millionen Menschen, infizierten, und dass etwa 50 Millionen krankheitsbedingt starben – deutlich mehr als durch den Weltkrieg und dessen Folgekrisen.

Welche Bedeutung hatte die große Grippe aber für den Kriegsverlauf? Der deutsche Generalstabschef Ludendorff sammelte jedenfalls eifrig Argumente, um die sich abzeichnende Niederlage dem Influenzavirus anzulasten. Aber dann bot ihm die politisch brisante „Dolchstoßlegende“ einen weitaus wirkungsvolleren Sündenbock. An der Demoralisierung der Heimatfront hatte die Grippe sicher ihren Anteil; ihre Auswirkungen auf den Kriegsverlauf sind dagegen umstritten. Die zunächst recht erfolgreiche deutsche Frühjahrsoffensive verlor sicher durch die vielen Krankheitsfälle an Schwung; andererseits war auch die Gegenseite massiv grippegeschwächt. Angesichts der Kräfteverhältnisse war der Einbruch der Westfront so oder so unvermeidlich.

Hinter jedem der vielen Millionen Todesfälle stand ein individuelles Schicksal

Erschüttert wurde durch das Massensterben und die Hilflosigkeit der Medizin auch die weitverbreitete Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit der Zeit. Der Brite Arthur Conan Doyle, Schöpfer von Sherlock Holmes, der ultimativen Verkörperung von Logik und Analyse, wandte sich nach dem Grippetod seines Sohnes Kingsley esoterischen und spiritistischen Bewegungen zu. Er ist nur ein Beispiel für die Abkehr von überlieferten Werten und Gewissheiten in den Künsten, aber auch in der Wissenschaft.

Hinter jedem der vielen Millionen Todesfälle stand ein individuelles Schicksal, und nur wenige machten Schlagzeilen. Der französische Dichter Guillaume Apollinaire hatte sich gerade von einer schweren Frontverletzung erholt, als ihn die Grippe dahinraffte. In Wien starb der Maler Egon Schiele gemeinsam mit seiner Frau an der Seuche; in München der bekannte Wirtschaftswissenschaftler Max Weber 1920 an den Folgen. Brasiliens frisch gewählter Präsident Alves wurde begraben, ehe er sein Amt antreten konnte.

Schicksale in Zeiten der Influenza konnten aber auch überraschende Wendungen nehmen. So berichtet der Schriftsteller Andrew Greig, wie sein Großvater darauf beharrte, dass die Grippe ihm das Leben gerettet habe: „Seine Rekonvaleszenz verzögerte seine Rückkehr an die Front in Frankreich, wo seine Kompanie bis zum letzten Mann ausgelöscht wurde.“

Die Grippe suchte im besonders betroffenen New York auch eine deutsche Einwandererfamilie heim. Der Familienvater starb im Mai 1918 an der Infektion, nicht ohne eine Lebensversicherung abgeschlossen zu haben. Der Sohn erwarb mit dem Betrag Immobilien und legte damit den Grundstein eines Firmenimperiums. Der Name des folgenreichen Grippeopfers: Friedrich Trump.

 

 

Der Artikel stammt aus
G/GESCHICHTE 11/2018 „Die Kosaken“