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Erster Weltkrieg

1914: In Europa gehen die Lichter aus

Der Juli 1914 war warm und sonnig, und in ganz Europa genossen die Menschen ihren Urlaub oder freie Arbeitstage. Sie ahnten nicht, dass bereits die Lunte an der Bombe brannte, die ihre Welt für immer in Trümmer legen würde.

Der Erste Weltkrieg begann offiziell am 28. Juli 1914 mit der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien. Doch es ging ihm eine Vorahnung wie ein Schatten voraus. | ©istockphoto.com/The-Vagabond

Gezündet worden war diese Lunte am 28. Juni in Sarajevo, Hauptstadt der neu annektierten k. u. k. Provinz Bosnien-Herzegowina. Dort erschoss der bosnisch-serbische Student Gavrilo Princip den Thronerben Österreich-Ungarns, Franz-Ferdinand, und dessen Gattin Sophie.

Princip gehörte einer Untergrundorganisation an, welche für die Unabhängigkeit Bosniens und letztlich dessen Anschluss an Serbien kämpfte.

Die Ermordung eines Thronfolgers würde auch bei bester Nachbarschaft als unfreundlicher Akt betrachtet werden.

Die Beziehungen zwischen Wien und Belgrad waren aber ohnehin gespannt, und so verhinderten weder die eher mäßige Trauer um einen kontroversen, da für Reformen offenen Kronprinzen, noch der Mangel an klaren Beweisen für eine Verwicklung der serbischen Regierung den Rachekrieg, den die Wiener Boulevardpresse mit der unsäglichen Schlagzeile „Serbien muss sterben!“ einforderte.

Eine von langer Hand vorbereitete Katastrophe

Doch wieso entstand aus einem Regionalkonflikt am Rande Europas ein Flächenbrand, der schließlich den ganzen Kontinent und große Teile der ganzen Welt umfasste?

Man sei in den Krieg „hineingestolpert“, das war später die Erklärung und Rechtfertigung von Politikern auf beiden Seiten, und nicht wenige Historiker haben sich dieser Deutung angeschlossen. Man weiß ja schließlich, dass viele so genannte „Verschwörungen“ tatsächlich das Ergebnis von Inkompetenz und Dummheit sind.

Gegen dieses zwar peinliche, aber letztlich verharmlosende Argument gibt es einen wichtigen Kronzeugen: Friedrich Engels.

Die grimmige Zukunftsschau des Friedrich Engels

Der Vordenker der Arbeiterbewegung hatte bereits 1887 einen „Weltkrieg von einer bisher nie gekannten Ausdehnung und Heftigkeit“ prophezeit, in dem sich „acht bis zehn Millionen Soldaten untereinander abwürgen“ würden.

Und weiter ging die grimmige Prophezeiung:

„Die Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges zusammengedrängt in drei bis vier Jahre und über den ganzen Kontinent verbreitet … Hungersnot, Seuchen, allgemeine Verwilderung der Heere wie der Volksmassen … Zusammenbruch der alten Staaten … derart, dass die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt; absolute Unmöglichkeit, vorherzusehen, wie das alles enden und wer als Sieger aus dem Kampf hervorgehen wird.“

Wenn ein scharfsichtiger Beobachter das kommende Desaster so frühzeitig so klar erkennen konnte, dann ist niemand „hineingestolpert“! Die Mächte Europas wollten den Krieg, einen Krieg – und sie bekamen mehr davon, als sie es sich vorgestellt hatten.

Der Krieg stand „auf Abruf bereit“

Was waren nun diese gewollten Kriegsszenarien, die schließlich in dem ungewollten Weltbrand endeten?

Am längsten „auf Abruf bereit“ stand der Revanche-Krieg Frankreichs gegen das Deutsche Reich – ein Feldzug, mit dem die „Schmach“ von 1870/71 ausgelöscht und die verlorenen Territorien von Elsass-Lothringen zurückgewonnen werden sollten.

Dies war eine Wunde, die partout nicht vernarben wollte, da sie von interessierten Kreisen in Frankreich – dem Militär einerseits, populistischen Politikern und Publizisten andererseits – gezielt offen gehalten wurde. Die mangelnde Begeisterung der deutschsprachigen Elsässer und Lothringer für die „Besatzer“ in den preußischen Uniformen trug ebenfalls nicht zur Entspannung bei.

Säbelrasseln als Rechtfertigung für Aufrüstung

Das permanente Säbelrasseln von jenseits der Vogesen wurde jedenfalls von deutscher Seite nur zu gerne als Rechtfertigung für die eigene massive Aufrüstung und Kriegsvorbereitungen benutzt.

Man sprach sogar ganz offen vom präventivem Gegenschlag, der so hart und gründlich ausfallen würde, dass den Franzosen für ein und alle Mal die Lust zur Revanche verging.

Bismarck hatte es schließlich vorgemacht, wie sich der Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Carl von Clausewitz) einsetzen ließ, und seither träumten alle Machtpolitiker – nicht nur in Berlin und Paris – von ähnlichen Triumphen auf Kosten toter Soldaten.

Der Traum vom eigenen Empire

Ansonsten hatten deutsche Politik und Rüstungsinteressen wenig Grund zum Säbelrasseln. Aber wenn man sonst keine Feinde hatte, konnte man sich die ja machen!

Etwa Großbritannien, dem man als Industriemacht immer näher rückte. Wenn man den Briten bei diesem Vorbild erfolgreich gefolgt war, warum dann nicht beim Traum vom eigenen Empire?

Deutschlands Anteil an der kolonialen Weltkarte war zersplittert und zweitklassig. Wollte man das ändern, brauchte man vor allem eines: eine schlagkräftige Hochseeflotte.

„Deutschlands Zukunft liegt auf dem Wasser!“ hatte Kaiser Wilhelm II. 1898 bei der Eröffnung des Stettiner Freihafens verkündet und damit nicht nur Großmama Victoria provoziert, sondern in ganz Großbritannien die Alarmglocken schrillen lassen.

Die Briten betrachteten es als ihr gottgegebenes Recht, die stärkste Flotte der Welt zu unterhalten, und wer dagegen aufmuckte, mutierte umgehend zum Staatsfeind Nummer eins. Es begann ein irrwitziges Wettrüsten um das größte, schnellste, stärkste Schlachtschiff,  ohne viel nach dem strategischen Sinn der Monster zu fragen.

Bündnisse gegen den wilhelminischen Störenfried

Strategischen Sinn machte es dagegen für London, sich an die Feinde des Hohenzollernreichs anzunähern. Ein Krieg an den eigenen Grenzen würde Kaiser Wilhelm II. rasch von seinen Weltreichträumen heilen!

1904 begruben daher das Großbritannien und Frankreich ihre eigene, seit Jahrhunderten gepflegte „Erbfeindschaft“ mit der „Entente cordiale“, dem „herzlichen Einvernehmen“, das eindeutig gegen Deutschland gerichtet war.

Um den lästigen Störenfried noch besser unter Kontrolle zu halten, streckten Paris und London ihre diplomatischen Fühler dann auch nach Sankt Petersburg aus.

Ideologisch gesehen war das autokratische Zarenreich zwar ein denkbar unpassender Verbündeter für die liberalen, demokratischen Westmächte, zudem ein Verbündeter, der von inneren Problemen und Krisen zerrissen wurde.

Aber die Möglichkeit, den Deutschen mit dem Zweitfrontenkrieg – Bismarcks ständiger Alptraum – drohen zu können, wollte man sich nicht entgehen lassen. Das an sich gute Verhältnis zwischen Kaiser Willi und Zar Nikki sollte dann aber auch sicherstellen, dass es bei der Drohung blieb.

Außenpolitik statt Reformen nach innen

Doch es gab auch am Zarenhof jede Menge Kriegstreiber, obwohl man dort gerade erst erlebt hatte, wie schrecklich schief der Griff zu den Waffen gehen konnte.

Russlands imperialer Wahn, auch noch über Ostasien herrschen zu wollen, hatte 1904/05 zum Zusammenstoß mit Japan und einer ebenso peinlichen wie gründlichen militärischen Niederlage geführt.

Die folgenden massiven Unruhen im Zarenreich hatten beinahe schon die Revolution ausgelöst, die dann im Gefolge des Weltkriegs kam.

Doch statt grundlegende Reformen durchzusetzen, hofften etliche der Drahtzieher um dem schwachen Zaren Nikolaus, das Volk mit außenpolitischen Erfolgen ruhig stellen zu können, und sei es um den Preis eines weiteren Kriegs.

Zahlreiche Ethnien und Religionen

Auf der Suche nach Expansionsmöglichkeiten stießen die russischen Strategen zwangsläufig auf den Balkan.

Das dortige Gemisch von Ethnien und Religionen lieferte reichlich Angriffspunkte für das Russische Reich, das für sich in Anspruch nahm, Schutzmacht aller orthodoxen Christen zu sein, nachdem es sich nach der Eroberung Konstantinopels im 15. Jahrhundert durch die Osmanen zum „Dritten Rom“ befördert hatte.

Sehr viel jünger dagegen war die Idee des „Panslawismus“, die alle Slawen zu einer einzigen großen Familie zusammenfasste, über deren Wohl und Wehe Väterchen Zar zu wachen hatte.

Neue Nationalstaaten

Mit dieser doppelten Keule ließ sich prächtig auf das morsche Vielvölkerreich der Osmanen einprügeln, so lange, bis 1912 mit dem Ersten Balkankrieg die Macht des Sultans über europäisches Territorium endgültig zu Ende ging.

Anstelle des alten Großreichs der Sultane war nun eine ganze Schar neuer Nationalstaaten getreten – Serbien, Bulgarien, Montenegro, Albanien –, ohne dass das Durcheinander der Völkerschaften dadurch bereinigt worden wäre.

Prompt gingen sich die Sieger bei der Verteilung der Beute 1913 im Zweite Balkankrieg gegenseitig mit größter Brutalität an die Gurgeln – ein weiteres warnendes Menetekel, das geflissentlich übersehen wurde.

Tiefe Gräben im Habsburger Vielvölkerreich

Gerade für die Panslawisten lag die größte „Beute“ ohnehin noch bereit: das andere Vielvölkerreich Österreich-Ungarn.

Den nationalistischen Tendenzen des Jahrhunderts zum Trotz lebten unter Franz Josephs I. Herrschaft noch immer Dutzende von Ethnien zusammen, schiedlich, wenn auch nicht immer friedlich, im Zustand „wohltemperierter Unzufriedenheit“.

Das heißt, Deutsche und Ungarn waren in ihren eigenen Reichsteilen eigentlich ganz zufrieden, wären da nur nicht die vielen anderen Minderheiten gewesen, mit denen sie zusammenleben mussten.

Geeint durch panslawistische Ideen

Am schlechtesten „temperiert“ fühlte sich die dritte große Volksgruppe, die Slawen. Die war zwar ihrerseits höchst unterschiedlich gestaltet – Polen oder Tschechen und Kroaten oder Bosniaken trennten kulturelle Welten –; empfänglich für panslawistische Ideen waren sie jedoch alle.

Besonders rührig unterstützen diese Haltung Serben, die – durchaus in Konkurrenz zu Russland – von einem „Groß-Südslawien“ träumten.

Dass der Thronerbe Franz Ferdinand die Stellung der Slawen im Habsburgerreich aufwerten wollte, machte ihn erst recht zum Ziel serbischer Nationalisten, die ihre Argumente davonschwimmen sahen. Die österreichischen Militärs hingegen wollten das „serbische Geschwür“ ein für alle Mal beseitigen, und da war das Attentat von Sarajevo eine Gelegenheit, die man nicht auslassen konnte.

Immerhin fragte man aus Wien sicherheitshalber in Berlin nach, wie denn der deutsche Verbündete zu einem harten Kurs gegen Belgrad stünde.

Kaiser Wilhelms Regierung fand darauf keine bessere Antwort, als den Habsburgern einmal mehr die unerschütterliche „Nibelungentreue“ des Deutschen Reiches zu zuzusichern und Österreich-Ungarn damit einen „Blankoscheck“ für alle, auch militärische, Aktionen gegen Serbien auszustellen.

Ein großer Krieg und viele Schuldige

Damit war die letzte Sicherung durchgeknallt, die den Kurzschluss Europas noch hätte verhindern können. Mit der ersten Kriegserklärung – jener Österreich-Ungarns an Serbien, genau einen Monat nach dem Tod Franz Ferdinands – begann die fatale Automatik der Bündnissysteme zu greifen, und niemand schien willens oder fähig zu sein, die Kettenreaktion aufzuhalten.

Wer war nun aber letztendlich „schuld“ gewesen am großen Töten und Sterben, das Friedrich Engels düstere Visionen Wort für Wort erfüllte?

Die Sieger machten es sich nach 1918 leicht, indem sie den Besiegten den Schwarzen Peter und die alleinige Verantwortung zuschoben.

Fanatische bis kalt berechnende Kriegstreiber hatte es aber in allen beteiligten Nationen gegeben, ebenso wie ratlose Diplomaten und dummdreiste Propagandisten.

Der eine schwere Vorwurf, den man Kaiser Wilhelm II. und der Regierung in Berlin machen muss, bleibt, dass sie Österreich-Ungarn ermutigten statt zu bremsen. Der andere war, dass sich die Politiker von den Militärs zum Angriff  auf Belgien überreden ließen, was den Kriegseintritt Großbritanniens unvermeidlich machte.

Aber auch wenn die „Sarajevo-Krise“ entschärft worden wäre – irgendjemand hätte irgendwann ein Zündholz in das europäische Pulverfass geworfen. Man konnte doch all die schönen Waffen nicht verrosten lassen, die man angehäuft hatte …

Franz Metzger

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 11/2013 „Der Erste Weltkrieg“

Zuletzt geändert: 28.08.2018