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Der Untergang der Grande Armée

Napoleons Russlandfeldzug

Der Feldzug gegen Russland bringt Napoleon 1812 eine brutale 
Niederlage. Von der glanzvollen Grande Armée erreichen nur zehn Prozent 
der Soldaten ihre Heimat. Es ist der Anfang vom Ende.

Napoleons Russlandfeldzug

Szene von Napoleons Rückzug aus Russland im Dezember 1812. | © Rijksmuseum Amsterdam

 

Beresina, 27. November 1812: Bis zum Mittag hatte es noch eine Art Ordnung im jenem Chaos gegeben, das von der Grande Armée übrig geblieben war. Umzingelt von einer feindlichen Übermacht, geschützt von verschanzten Vorposten, marschierten Tausende über die zwei Behelfsbrücken der reißenden Beresina. Dann war die Garde in zerlumpten Uniformen angetreten und marschierte langsam über die Holzplanken. In ihrer Mitte, auf seinem Pferd, im Generalsmantel, gesenkten Kopfes: Napoleon Bonaparte. Als der irgendwo am Westufer verschwand, brach bei den Zurückgebliebenen Panik aus. Sie stürmten die Brücken. Die Schwächeren, vor allem Frauen und Kinder, wurden ins Wasser gestoßen und ertranken, andere wurden von den Fuhrwerken überrollt und zerquetscht. Eine der Brücken brach angesichts der Überlastung. Napoleon selbst blickte nur kurz auf das Desaster und brütete vor sich hin. Vielleicht dachte er an die Hoffnungen, mit denen er diesen Feldzug begonnen hatte. Mehr und mehr hatte sich im Jahr 1811 herausgestellt, dass der mit dem Zaren geschlossene Friede von Tilsit nicht mehr als ein Waffenstillstand war. Alexander konnte und wollte die gegen Großbritannien errichtete Kontinentalsperre nicht mittragen und unterlief sie zunehmend. Wagenladungen angeblich „amerikanischer Waren“ kamen via Russland auf das Festland. Napoleon lockte aber auch eine unstillbare Gier nach Macht und Ruhm und die vage Hoff
nung, wenn Russland bezwungen sei, dann müsse auch Großbritannien die Waffen strecken.

Deutsche stellten die größte Gruppe in Napoleons Armee

Immer wieder schwankte der Kaiser, ob er diesen Schritt wagen solle. Er las mehrmals Voltaires Geschichte Karls XII. und versuchte, daraus seine Lehren zu ziehen. Ab Mitte 1811 plante Napoleon den Feldzug. Er wusste um die gewaltigen Schwierigkeiten, ein so riesiges Heer in gigantische und teils unwirtliche Weiten zu führen. Auf einen Winterkrieg wie Schwedens Karl XII. wollte er sich nicht einlassen, deshalb stand der Juni 1812 als Kriegsbeginn für ihn fest. Es ging ihm zunächst weniger um die Militärstrategie, sondern um all die scheinbaren Kleinigkeiten, die Voraussetzung eines Erfolges waren: Schuhe, Kleidung, Decken, Vorräte, Nachschub, Reservepferde, ärztliche Versorgung. Nichts wollte er dem Zufall überlassen, aber er ahnte nicht, wie sehr bei diesem Feldzug die Planung von der Realität abweichen würde.

Der Feind bemerkte nicht nur von den Transporten, sondern auch vom Truppenaufmarsch nichts. Immerhin waren 
es mehr als eine halbe Million Mann. 
In der „Großen Armee der zwanzig Nationen“ stellten die Franzosen nicht einmal die Hälfte des Personals. Die Deutschen machten die größte Gruppe aus, dann noch Italiener, Spanier, Portugiesen, Kroaten und Polen. Die Flanken – und das war ein Fehler – stellten die unsichersten Verbündeten. Auf der Linken, also im Norden, waren die Preußen ebenso zögerlich wie die ös
terreichischen Kontingente auf der rechten, also der südlichen Seite der Grande Armée. Seit Februar 1812 setzten sich die Marschkolonnen in Bewegung, 
zuerst die aus Italien, dann aus Frankreich und Nordeuropa. Ganz Deutschland wurde zum Aufmarschgebiet. Durch die Städtchen wälzte sich wochen-, ja monatelang ein Heerwurm von Husaren und Dragonern, Infanterie- und Pioniertruppen, Artillerie und Munitionsfahrzeugen, Ambulanzen und Feldgendarmerie, Lebensmittel- und Kleiderwagen, gezogen von Ochsen.

Die Soldaten kämpfen um Nahrung statt gegen den Feind

Am 24. Juni 1812 war es so weit: Die Armee überschritt die Memel. Napoleon wäre nicht Napoleon gewesen, hätte er dieses Ereignis nicht mit einer festlichen Zeremonie gewürdigt. Wie ein „Lavastrom“ – so die offiziellen Bulletins – paradierte die „bewegliche Zitadelle“ eine ganze Woche am Kaiser vorbei. Nur der Gegner – zahlenmäßig unterlegen  – 
ließ sich nicht sehen und zog sich in die Weiten des Landes zurück. Napoleon war ob dieses Zurückweichens frustriert, aber nicht völlig überrascht. In Eilmärschen wollte er den feindlichen Truppen nachsetzen und hoffte, sie spätestens in Wilna stellen zu können. Doch die Euphorie, die noch beim Übergang über die Memel geherrscht hatte, verflog schnell. Die Soldaten kämpften nicht gegen einen konkreten Feind, sondern in einer meist unwirtlichen und unbehausten Gegend um die kärgliche Nahrung und gegen Wind und Wetter. Das öde Land konnte nicht einmal seine eigenen Leute ernähren, geschweige denn Hunderttausende fremder Soldaten. Die Zugochsen hielten das befohlene Marschtempo nicht ein, wurden geschlagen und verreckten. Hunderte, ja Tausende von Wagen blieben liegen. Für die Pferde gab es nicht ausreichend Futter, in der Not gab man ihnen unreifes Getreide oder Stroh; schon in den ersten Tagen krepierten mehr als 20.000. Bald waren die wenigen Brunnen erschöpft, mit dem Wasser aus verschmutzten Sümpfen und Flüssen kam die Ruhr, an der Tausende starben. Immer mehr Soldaten versuchten, dem Elend durch Desertion zu entgehen und schlossen sich zu marodierenden Banden zusammen, auf die die Feldgendarmerie erbittert Jagd machte und sie sofort hinrichtete.

Horrende Verluste ohne jede Kampfhandlung

Napoleon richtete seine Hoffnung auf Wilna, wo er eine Schlacht mit den russischen Verteidigern erwartete. Aber die zogen sich zurück, nicht ohne die Vorräte, die sie nicht mehr mitnehmen konnten, zu verbrennen. Vermutlich setzte sich der Eroberer hier zum ersten Mal mit der Frage auseinander, was er tun solle, wenn der Gegner immer weiter zurückweichen werde. Eine Antwort darauf hatte er nicht. Erstmals erlebte er auch die katastrophalen Auswirkungen eines Wetterumschwungs auf die geschwächte Armee. Am 29. Juni  wurde es nach einem verheerenden Platzregen bitterkalt; aus den Feldlagern wurden Schlammwüsten, in denen allein an diesem Tag 20.000 Pferde jämmerlich eingingen. Auch wenn es in den ersten zwei Wochen des Feldzuges einige Scharmützel gab, fiel die Bilanz ernüchternd aus: Praktisch ohne nennenswerte Kampfhandlungen hatte Napoleon mehr als 100.000 Soldaten eingebüßt. Dies war freilich nicht Ergebnis einer ausgeklügelten russischen Taktik. Die Verteidiger mussten erst einmal die im Riesenreich verstreuten Kontingente vereinen, um eine Verteidigungslinie zu bilden. Anfang August geschah dies bei Smolensk, und Napoleon hoffte, dass sich der Feind dort endlich stellen werde. Zwei Wochen hatte er nach der Einnahme der kleinen Stadt Witebsk überlegt, ob er weitermarschieren solle. Konnte es eine Lösung sein, sich nach dem Verlust eines Drittels der Grande Armée ohne einen nennenswerten Erfolg  zurückzuziehen? Einen solchen Entschluss hätten auch Feldherren mit einem kleineren Ego als der Korse nicht gefasst. Also setzte er alles auf eine Karte und befahl nach zwei Wochen des Nachdenkens den Vormarsch auf Smolensk.

Dort kam es am 17. August zum Kampf, bei dem Napoleon ein vielfach erprobtes „schönes Manöver“ anwendete. Mit einem Teil seiner Truppen wollte er am Gegner vorbeimarschieren, den linken Flügel 
von hinten angreifen und ihm so den Rückzug abschneiden. Aber das Vorhaben gelang nicht. Die geschwächten Truppen waren nicht schnell genug, vor allem aber: Die russischen Verteidiger  – 
obgleich selbst durch Desertionen und Krankheit geschwächt – wehrten sich erbittert, der eigentliche Vormarsch stockte. Am Abend wurde der Kampf mit deutlichen Vorteilen für die Franzosen abgebrochen. Als der Morgen graute, hatten sich die Russen zurückgezogen, Napoleon marschierte in eine leere, vom gestrigen Artilleriebeschuss verbrannte Stadt ein. Dem vermeintlichen Sieger bot sich ein Bild des Grauens: überall Leichen und stöhnende Verwundete. Und er stand vor dem gleichen Dilemma wie vor der Schlacht: Ein entscheidender Sieg war nicht gelungen, die Armee wurde immer kleiner, und er stand immer tiefer im Feindesland.

Beide Seiten reklamieren den Sieg für sich

Wieder setzte Napoleon alles auf eine Karte: Der Rückzug kam noch weniger als vor zwei Wochen in Frage, also hieß es dem Feind Richtung Moskau nachsetzen. Bei Borodino kam es am 7. September zur bisher blutigsten Schlacht des Feldzuges. Lange stand sie auf des Messers Schneide, dann entschied die klein gewordene Grande Armée den Kampf für sich, auch wenn der russische Oberbefehlshaber ebenfalls den Sieg für sich reklamierte. Für den sieggewohnten Kaiser war es ein Pyrrhussieg. Das Prunkstück und der Erfolgsgarant seiner Armee, die Kavallerie, existierte praktisch nicht mehr. Von den Soldaten waren vielleicht noch 100.000 kampffähig, für die mehr als 25.000 Verwundeten wurden die fünf Tage bis Moskau zur nicht enden wollenden Qual. Und Moskau selbst wandelte sich für alle, speziell aber für Napoleon, von verheißungsvoller Hoffnung zur bitteren Enttäuschung: Die Truppen marschierten in eine schweigende, nahezu menschenleere Stadt ein.

Dann, wenige Tage nach dem Einmarsch, brannte Moskau. War es der Gouverneur von Moskau, Graf Rostoptschin, der seine eigene Stadt anzünden ließ und so der Strategie der verbrannten Erde eine neue Dimension verlieh? Napoleon stellte es später so dar und hoffte, es als barbarischen Akt propagandistisch zu verwerten. Die Historiker streiten noch heute darüber. Gut möglich ist auch, dass eine trunkene, plündernde Soldateska nicht auf ausbrechende Feuer achtete. Und Bürger und Moskauer Feuerwehr, in Friedenszeiten für die Brandbekämpfung gerüstet, waren einfach nicht oder nicht in genügendem Maß vorhanden. 
Dafür spricht, dass die ersten Brände einen Tag nach dem Einmarsch am 14. September ausbrachen, aber weitgehend gelöscht werden konnten. In den folgenden Nächten kam es wieder zu Bränden, aber erst am 16. fachten Windböen das Feuer so stark an, dass drei Viertel der vor allem aus Holzhäusern bestehenden Stadt in Schutt und Asche lagen. Moskau in Flammen, das war eine Katastrophe für die Stadt, weniger für die französische Armee. Die verbliebenen Häuser reichten als Quartier, und anders als in Wilna und Smolensk gab es sogar noch Lebensmittelvorräte. Die eigentliche Katastrophe für Napoleon war, dass er mit knapp 20 Prozent seiner ursprünglichen Armee mitten in Russland saß und nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Vergeblich hoffte er, dass sich ein Kurier des Zaren melden würde und doch noch ein für beide Seiten glimpflicher Friedensvertrag zustande käme. Ein Vorstoß auf Sankt Petersburg, wo sich Alexander aufhielt, war angesichts der fortgeschrittenen Jahreszeit wenig erfolgversprechend. Die einzige Alternative war der Rückzug, und dieses faktische Eingeständnis der Niederlage fiel Napoleon so schwer, dass er fünf Wochen zauderte.

Der Rückweg wird zur Todesfalle

Am 19. Oktober verließen die Reste der Grande Armée Moskau. Noch waren die Soldaten guten Mutes, Offiziere und Mannschaft hatten geplündert, was nicht niet- und nagelfest war. Und es herrschte gute Stimmung. Es ging nach Hause, man hatte Beute gemacht, es waren sogar noch Verstärkungen gekommen und man war im Felde weitgehend unbesiegt. Freilich, dieser Optimismus war nicht gerechtfertigt: Die Verstärkungen waren wenig ausgebildete Rekruten, fast noch Kinder oder verurteilte Verbrecher. Und die Beute, ob auf dem Wagen oder auf dem Rücken, verlangsamte den Marsch erheblich. Als man fast zwei Wochen später bei Borodino vorbeizog, sank die Stimmung fast auf den Nullpunkt: Überall halbverweste Leichen und Pferdekadaver, an denen sich Krähen labten. Und es zeigte sich, dass Napoleon sich für den falschen Weg entschieden hatte – 
nämlich die Route, über die er gekommen war und in deren Umkreis kilometerweit alle Dörfer bereits geplündert und alle Vorräte gefressen worden waren. Hunger machte sich breit, hinter dem Heer folgten russische Heckenschützen und rachsüchtige Bauern, die jedem, der zurückblieb, auflauerten und ihn mit grausamen Foltern töteten. Bei den wenigen größeren Rückzugsgefechten blieb die französische Armee siegreich, wenn auch die Verluste enorm waren. Hier profitierte Napoleon vom übervorsichtigen Vorgehen des russischen Oberbefehlshabers Kutusow. Hatte sich dessen Strategie des Zurückweichens und Lavierens beim Vormarsch auf Moskau als richtig erwiesen, so rettete sie jetzt die geschlagene Grande Armée vor der völligen Vernichtung.

Vom 6. November an kam die Kälte hinzu, die Temperatur sank 
unter null Grad. Am 21. November erreichte das Heer das Ostufer der Beresina, eines Nebenflusses des Dnjepr. Die Lage war verzweifelt, die Armee auf knapp 50.000 noch kampffähige Soldaten und 4.000 Nachzügler zusammengeschmolzen, die von drei weit überlegenen russischen Kontingenten umzingelt waren, von denen eines die vorhandene Brücke besetzt hatte. Die Pioniere zimmerten bis zum 26. November zwei Notbrücken, während die Russen die ringsum verschanzten Vorposten angriffen. Danach begann der Übermarsch, langsam angesichts der Umstände, bis Napoleon und seine Garde das andere Ufer erreichten, aber einigermaßen geordnet. Trotz der danach ausbrechenden Panik erreichten etwa 40.000 Franzosen das rettende Ufer. Wenig zwar, aber immerhin. Militärhistoriker sind sich einig, dass bei einem entschlossenen und koordinierten russischen Vorgehen keiner, auch nicht Napoleon selbst, entkommen wäre.

Napoleon scheiterte an seiner Hybris

Während der Leidensweg der geschlagenen Armee weiterging, strickte ihr Feldherr an der Legende vom „General Winter“. Am 3. Dezember, zwei Tage bevor er seine Armee im Schlitten Richtung Paris verließ, hieß es in einem Bulletin, dass die „extreme und vorzeitige Gewalt des Winters“ schuld an dem Debakel sei. Das Wetter war aber nicht die Ursache der Niederlage. Napoleon war trotz akribischer Vorarbeit an seiner Hybris gescheitert, an der Tatsache, dass er angesichts der Weite des Landes und der damit verbundenen logistischen Schwierigkeiten zwar einige Siege erringen, aber nicht den Krieg gewinnen konnte. Sein Zögern und Zaudern war für seine Armee so verhängnisvoll wie auf der anderen Seite das Zögern, ja die Abstimmungsschwierigkeiten zum Erfolg beitrugen. So marschierten – mit den verschiedenen Verstärkungen – an die 600.000 Mann in Russland ein, weniger als zehn Prozent davon kehrten zurück. Als der Winter einbrach, war der Löwenanteil dieser Grande Armée schon verloren, er gab ihr nur noch den Rest. Wie zum Hohn für die Toten und die wenigen Überlebenden schloss Napoleons Bulletin mit den Worten: „Die Gesundheit Sr. Majestät war nie besser.“

Hatte Napoleon wirklich geglaubt, dass er wie die Jahre zuvor weitermachen konnte? Oder wollte er Europa seine wachsende Stärke beweisen? Tatsache ist, dass nach der katastrophalen Niederlage der Grande 
Armée die Befreiungskriege begannen. Europa bäumte sich gegen den Herrscher aus Frankreich auf. Die Europäer waren bereit, für ihre nationale Freiheit in die Schlacht zu ziehen. Und jeder wollte etwas vom zerfallenden Empire abhaben.

Hans-Peter von Peschke

 

Zuletzt geändert: 02.06.2015

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