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Mandelas Südafrika

Teamgeist statt Apartheid

1976 führte die Niederschlagung des Aufstands von Soweto der Welt vor Augen, wie es um Südafrika stand. Erst die Wahl von Nelson Mandela machte das Land zu dem, was ist: zur Regenbogennation.

Nelson Mandela

Nelson Mandela im Februar 1990 nach seiner Freilassung. | © istockphoto.com/ruvanboshoff

 

Ein Bild ging um die Welt: Darauf war der 12-jährige Hector Pieterson in den Armen eines Mitschülers zu sehen. Regungslos, seine Arme baumelten gen Boden. Eine Kugel hatte ihn tödlich getroffen. Blut quoll aus seinem Mund. Tropfen für Tropfen verfärbte sich das weiße Hemd seines Mitschülers in tiefes Rot. Hector Pieterson war das erste Opfer an „diesem blutigsten Mittwoch“ in der Geschichte Südafrikas, wie die „Sunday Times“ jenen Aufstand am 16. Juni 1976 in Soweto bezeichnete.

Damals war das Township Sowe-to („South Western Township“) in Johannesburg Schauplatz der Eskalation zwischen schwarzer Bevölkerung und weißer Regierung. Auf diesem Ort scheint immer noch der Schatten der Apartheid zu ruhen. Der Kampf für die Freiheit wurde Hector Pieterson zum Verhängnis. Zusammen mit weiteren 15 000 Schülern stand er für sein Recht auf Bildung ein – gegen den Willen der weißen Machthaber. Es waren Kinder, die die Regierung herausforderten. „Ich sah ein Kind zu Boden stürzen. Im Kugelhagel rannte ich nach vorn und machte das Bild. Es ist ein friedlicher Protestzug gewesen“, schreibt Sam Nzima auf der Homepage der Stadt Johannesburg. Er war der Pressefotograf, der das symbolträchtige Foto von Hector Pieterson schoss.

Die Schüler hielten Transparente hoch. In großen Lettern stand darauf geschrieben: „Nieder mit Afrikaans“ oder „Gott schütze Afrika“. Bei der Demonstration ging es um die schlechten Bildungschancen der schwarzen Bevölkerung. Die Entscheidung, die höheren Klassen nicht mehr auf Englisch, sondern in Afrikaans, der Sprache der Buren, zu unterrichten, brachte das Fass zum Überlaufen. Was sich 1976 in Soweto abspielte, war ein Machtspiel zwischen Weiß und Schwarz. Insgesamt waren es nahezu 700 Demonstranten, die mit ihrem Leben bezahlten.

Auf Robben Island denkt Mandela über Pietersons Tod nach

Während die Polizei brutal auf die Demonstranten einschlug, saß Nelson Mandela tatenlos in seiner Zelle auf Robben Island. Alles, wofür er seine 27 Jahre währende Gefangenschaft in Kauf genommen hatte, schien am Tag dieser heftigen Ausschreitungen in Soweto vergebens gewesen zu sein. Nelson Mandela wurde 1964 weggesperrt, weil die Regierung seinen Einfluss auf die schwarze Bevölkerung fürchtete. Nach langem Prozess wurde Mandela des Hochverrats an seinem eigenen Land, dem weißen Südafrika, für schuldig erklärt. Zusammen mit Vertretern des South African Native National Congress (ANC), dem Mandela 1944 beigetreten war, hatte er für Demokratie gekämpft. Es ging um die Gleichberechtigung von Weiß und Schwarz. Als politischer Gefangener musste er hilflos hinnehmen, wie das Apartheidregime die schwarze Bevölkerung immer mehr zugrunde richtete. In Haft reflektierte Mandela intensiv, wie es zum Tod von Hector Pieterson kommen konnte.

Mit der Gründung der Südafrikanischen Union 1910 war die Unterscheidung zwischen Weiß und Schwarz erstmals im Gesetz verankert worden. Wie unerträglich das Leben aller Nicht-Weißen in Südafrika von diesem Zeitpunkt an werden würde, lag fern ihrer Vorstellungskraft. Betroffen waren genauso die einheimischen Schwarzen wie die eingewanderten Asiaten. Der Ausschluss der Schwarzen vom Wahlrecht war nur einer der schrecklichen Aspekte der Rassentrennung. Die weiße Bevölkerung verstand sämtliche Nicht-Weißen als „Landverschmutzer“ und Eindringlinge. Die Regierung hielt es für nötig, die schwarze Bevölkerung räumlich zu separieren. Eine Vermischung der ethnischen Gruppen war strengstens untersagt. 1913 wurde ein Gesetz verabschiedet, wonach alle Nicht-Weißen nur in den ihnen zugewiesenen Reservaten Land erwerben durften. Das Problem der Rassenvermischung sollte so eingedämmt werden.

Das Land brauchte eine Interessenvertretung aller Bevölkerungsgruppen. Schon 1912 hatte sich der South African Native National Congress formiert, um gegen die Ungerechtigkeit vorzugehen. Im Jahre 1923 entwickelte sich daraus der ANC, die derzeitig amtierende Regierungspartei. Damals aber bewirkte die noch als Widerstandsbewegung agierende Partei wenig. Boykotte und Streiks führten nicht zur Realisierung von Bürgerrechten. Kein Wimpernzucken, kein Eingeständnis der Regierung. Der Kampf um eine Aufhebung der Rassentrennung blieb zunächst vergebens.

Als die ultrarechte Nationale Partei, primär eine Interessenvertretung der Buren, 1948 an die Macht kam, verschärfte sich die Politik der Rassentrennung, und der Apartheidstaat nahm immer brutalere Züge an: Bald lebte nahezu die Hälfte der Bantu-Bevölkerung eingepfercht in sogenannten Homelands. Isolation, Segregation und Benachteiligung waren zum ständigen Begleiter des Alltags geworden. Degradiert zu Fremden in ihrem eigenen Land. Schikane und Diskriminierung mussten sie über sich ergehen lassen. Wenn sie sich außerhalb ihres Reservats aufhielten, mussten sie stets einen Pass mit sich führen. Die Schwarzen, die in den nun weißen Innenstädten arbeiteten, wurden dort nur so lange geduldet, bis sie am Abend wieder in ihre Townships am Rande der Stadt zurückkehrten.

Durch zunehmenden Protest fühlte sich die südafrikanische Regierung unter Druck gesetzt. Auf eine Demonstration am 21. März 1960 reagierte sie mit Gewalt. Eine Unterorganisation des ANC, der Panafrikanische Kongress (PAC), hatte die südafrikanische Bevölkerung dazu aufgerufen, ohne gültigen Pass vor die Polizeistation im Township Sharpeville zu treten – aus Provokation. Der Protest mündete in ein Massaker. Die Polizei erschoss 69 Schwarze – meist von hinten. Weitere 180 der 5000 Demonstranten wurden verletzt. Die Ausschreitungen im Township Sharpeville machten allzu deutlich, dass die Regierung mit aller Macht ein Aufbegehren der schwarzen Bevölkerung verhindern würde.

ANC: Widerstand im Untergrund

Eine der Maßnahmen der südafrikanischen Regierung bestand darin, den ANC zu verbieten. Doch die Vertreter des ANC gaben nicht auf. Sie führten ihre Arbeit aus dem Untergrund oder dem Ausland fort. Nach wie vor forderten sie vehement eine neue Verfassung und vor allem Demokratie. Doch nach dem Massaker von Sharpeville war die Stimmung erhitzter als zuvor. Der Kampf gegen die Apartheid sollte nun mit radikaleren Mitteln geführt werden. In der militärischen Aufrüstung sah Nelson Mandela den einzigen Ausweg. Zusammen mit Walter Sisulu gründete er 1961 den bewaffneten Flügel des ANC, den „Speer der Nation“.

Im Gegensatz zu Mandela sprach sich Erzbischof Desmond Tutu gegen jegliche Gewalt aus. Er predigte die Versöhnung zwischen den Rassen und erhielt für sein Wirken 1984 den Friedensnobelpreis. Wie Mandela in seinem Buch „Der lange Weg zur Freiheit“ anmerkte, hatte Tutu „mit seinen Worten und seinem Mut eine ganze Nation inspiriert und die Hoffnung der Menschen in dunkelster Zeit wieder aufleben lassen“. Als Mandela nach 10 000 Tagen Haft am 11. Februar 1990 durch das schwere Gefängnistor schritt, begrüßte ihn der Erzbischof mit herzlicher Umarmung. Staatspräsident Frederik Willem de Klerk hatte die Freilassung Nelson Mandelas veranlasst und das Verbot des ANC sowie zahlreicher anderer Parteien aufgehoben. Obgleich Vorsitzender der Nationalen Partei, hatte de Klerk erkannt, dass die Zukunft Südafrikas nur in einem friedlichen Miteinander liegen konnte.

Die Menschenmassen warteten bereits ungeduldig auf Mandela. In Scharen eilten sie zum Grand Parade, dem Rathausplatz in Kapstadt, um sich seine Rede nicht entgehen zu lassen. Mandela streckte die geballte Faust nach oben, als Zeichen für den Widerstand. Die Massen jubelten und fingen vor Freude zu singen an. Mandelas Kampfgeist war wieder geweckt, als er in die strahlenden Gesichter der Menschen sah. Nichts hielt ihn mehr auf, gegen die Rassentrennung vorzugehen. Mit seiner Rede ermutigte er die Menschen, sich wieder für die Demokratie einzusetzen. „Die letzten Meter werden wir gemeinsam zurücklegen!“, versprach der Freiheitskämpfer.

Aber am nächsten Tag schon war Mandelas Stimmung getrübt, als er mit dem Hubschrauber nach Soweto flog. Wohin das Auge reichte, waren abrissreife Wellblechhütten, herumlungernde Jugendliche und von Arbeitslosigkeit und Armut gezeichnete Erwachsene zu sehen. Mandela war bestürzt darüber, dass die Lebensverhältnisse in den Townships unverändert schlecht waren: „Heute erfüllt meine Rückkehr nach Soweto mein Herz mit Freude. Gleichzeitig komme ich mit einer tiefen Traurigkeit zurück. Traurigkeit, zu erfahren, dass ihr noch immer unter einem unmenschlichen System leidet.“ Damit waren die Wohnungsknappheit, die Schulkrise, die Arbeitslosigkeit sowie Kriminalität gemeint. Noch ein Anreiz mehr, den Kampf gegen das Apartheidregime wieder aufzunehmen. Doch nicht nur die Opposition innerhalb der Nationalen Partei torpedierte Sondierungsgespräche zwischen Mandela und de Klerk. Auch die Inkatha Freedom Party, die von Zulu-Führer Buthelezi angeführt wurde, erschwerte die Arbeit des ANC. Mit Gewalt wirkten sie auf die Widerstandskämpfer der Gegenpartei ANC ein, um sie damit einzuschüchtern.

1994 wird Mandela zum ersten schwarzen Präsidenten gewählt

Ohne Erfolg: Als Südafrika trotz all dieser Widernisse am 27. April 1994 seine ersten freien Wahlen abhielt, hatte der ANC sein oberstes Ziel erreicht. Im Voraus waren 100 000 Helfer daran beteiligt gewesen, der schwarzen Bevölkerung das Lesen und Schreiben beizubringen. Am Tag der Entscheidung strömten sie allesamt zu den Wahlbüros, um ihre Stimme abzugeben. Mandela berichtet in seiner Biografie von geduldigen Menschenschlangen, die sich durch schmutzige Straßen, Gassen und Dörfer wanden; von alten Frauen und Männern, die ein halbes Jahrhundert auf diesen Tag gewartet hatten. All diese Menschen fühlten sich das erste Mal in ihrem Leben vollwertig. Auch weiße Südafrikaner erklärten, stolz zu sein, nun doch noch in einem freien Land zu leben. Es war vielleicht der glücklichste Tag in der Geschichte Südafrikas. Der ANC ging aus den Wahlen als Sieger hervor, und am 10. Mai 1994 wurde Mandela als erster schwarzer Präsident Südafrikas vereidigt.

Von nun an sah Mandela seine Mission darin, für Versöhnung zu werben, die Wunden des Landes zu schließen sowie Vertrauen und Zuversicht zu stärken. Mandela wünschte sich, dass sich auch die Minderheiten auf die Zukunft freuen würden. Er bat alle Mitbürger, „sich die Hand zu reichen und zu verkünden, dass wir ein Land seien, eine Nation, ein Volk, und dass wir gemeinsam in die Zukunft gehen.“ Ein Teil dieser Vision ist die Fußball-Weltmeisterschaft 2010. Nelson Mandela sagte einst, dass einzig und allein der Sport die Kraft habe, die Welt zu verändern. Er sei mächtiger als Regierungen, wenn es darum gehe, Rassenschranken niederzureißen. Für das neue Südafrika war die Weltmeisterschaft daher viel mehr als ein gigantisches Sportereignis – sie ist ein Versprechen auf eine bessere Zukunft.

Es mag kein Zufall sein, dass die Fußball-Weltmeisterschaft ausgerechnet in Soweto eröffnet wurde. Der Fluch der Apartheid lastet immer noch auf den 3,5 Millionen Einwohnern der „Mutterstadt der schwarzen Bevölkerung Südafrikas“. Zwar gibt das angrenzende weiße Johannesburg Hoffnung auf Arbeit, doch Optimismus ist hier ein Fremdwort. Obwohl die Rassentrennung der Vergangenheit angehört, sind Elend, Kriminalität, Aids und Ungerechtigkeit in dieser Stadt beheimatet. Für die vornehmlich schwarze Bevölkerung bleibt deshalb im Gedächtnis, wofür Hector Pieterson 1976 gestorben ist – auch zur WM: Während Weiße in der ersten Reihe des First National Bank Stadium sitzen, verfolgen die meisten Schwarzen die Spiele nur aus der Ferne.

Anna Sabina Sommer

 

 

 

 

 

 

Zuletzt geändert: 24.06.2015