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Bücherbörse am Bodensee

Wie Konstanz den Humanismus voranbrachte

Im Tross der Päpste, der 1414 nach Konstanz zog, waren viele Gelehrte vom Geist des Humanismus angesteckt. Viele packte am Bodensee das Jagdfieber.

Im Gefolge des Konstanzer Konzils kamen viele Gelehrte in die Stadt am Bodensee. Bildnachweis: wikimedia

Im Gefolge des Konstanzer Konzils kamen viele Gelehrte in die Stadt am Bodensee. | © Wikimedia/Public Domain

Die Reise in ein fernes Land, versprach den Gelehrten im Gefolge der Konzilsteilnehmer neue Reviere für die große Leidenschaft der ersten Humanistengenerationen: die Jagd auf Werke der großen Dichter und Denker der Antike! Die wiederzuentdecken erforderte ebenso Spürsinn wie Hartnäckigkeit und eine gehörige Portion Glück. Denn es war reiner Zufall, welche Texte der Alten die Stürme der Zeiten überlebt hatten. Die großen Bibliotheken der Antike waren ebenso zerstört wie die Villen der reichen Sammler, die sich handgeschriebene Buchrollen leisten konnten. Antike Originale waren im Spätmittelalter nahezu unbekannt. Dass wenigstens Teile der Werke von Cicero oder Aristoteles, Plato oder Marc Aurel, Euripides oder Plautus überlebt haben, war einzig dem Fleiss eifriger Mönche des frühen Mittelalters zu verdanken, die in mühseliger Schreibarbeit ältere Texte kopierten. Vor allem die „Karolinigische Renaissance“ zur Zeit Karls des Großen leistete hier Entscheidendes. Klosterbibliotheken blieben während des ganzen Mittelalters die einzige Quelle für antike Literatur und damit Anlaufstelle Nummer eins für wissensdurstige Humanisten.

Solche Quellen waren nicht immer beabsichtigt: Pergament war ein kostbarer Schreibstoff, und wenn einem klösterlichen Skriptorium der Auftrag für ein neues Psalter gegeben wurde, nahmen die Mönche gerne eine alte Scharteke her und schabten deren Beschriftung mit Bimssteinen ab, so dass sie das Pergament neu beschreiben konnten. Auf solchen „Palimpsesten“ blieben allerdings oft die ursprünglichen Texte sichtbar, und die Gelehrten lernten rasch, auch dort nach Originalen zu suchen.

Jäger der verlorenen Texte

In Italiens Klöstern war diese Suche am Anfang des 15. Jahrhunderts weit gediehen. Die Humanisten hatten viel Antikes gefunden, aber auch schmerzlich begreifen müssen, wie lückenhaft ihre Funde waren. Neue Länder versprachen da neues Sammlerglück. Dieses Glück musste allerdings hart erarbeitet werden. Nur in wenigen Fällen waren die Äbte der Klöster bereit, Manuskripte aus der Hand zu geben, auch wenn sie nur „heidnische Irrtümer“ enthielten. Der erfolgreiche Textjäger musste sich also selbst in der Schreibstube ein Pult suchen und seine Funde per Hand kopieren.

In den Sitzungspausen des Konzils strömten jedenfalls die gebildeten Italiener in Deutschlands Klöster aus, um dort nach bislang unbekannten antiken Texten zu fahnden. Einer der erfolgreichsten Jäger vergessener Schätze war Poggio Bracciolini (eigentlich di Guccio, 1380–1459). Der gebürtige Toskaner machte dank seines Bildungshungers und seiner harten Ellenbogen eine steile Karriere im Dienst der Kirche, ohne selbst Geistlicher zu werden. Als vielseitiger Gelehrter mit einer eleganten Schreibhand diente er sieben Päpsten als Sekretär, zuletzt in der Spitzenposition des Apostolischen Sekretärs, der rechten Hand des Papstes. Im Dienste Johannes XXIII., des Papstes von Rom, kam er 1414 nach Konstanz. Kurz darauf fand er sich „arbeitslos“, war „sein“ Papst doch abgesetzt und sogar eingesperrt worden. Erst unter dem Einheitspapst Martin V. konnte Bracciolini seine Kurien-Karriere wieder aufgreifen.

Die erzwungene Muße nutzte Bracciolini zu seinen humanistischen Jagdzügen, zunächst in Klöstern rund um den Bodensee, in Reichenau, Weingarten oder Sankt Gallen. Der Erfolg ließ ihn seine Netze immer weiter auswerfen; vermutlich in Fulda machte er dann seine wohl bedeutendste Entdeckung: ein Exemplar des umfangreichen Lehrgedichts „Über die Natur der Dinge“ (De rerum natura) des römischen Philosophen Lukrez (Titus Lucretius Carus, etwa 99–53 v. Chr.). Hinweise auf dieses Werk hatte es in anderen Texten gegeben, jetzt endlich hielten die Humanisten das ganze Opus in Händen – in den vielen Abschriften, die von der Originalkopie in Bracciolinis feiner Hand rasch angefertigt wurden.

Lukrez fasst in diesem Gedicht die Grundzüge der Lehren des Epikur zusammen, mit dessen Thesen, die bereits in der Antike heiß umstritten waren und die im christlichen Abendland Weltbilder erschüttern mussten. Zwar leugneten Epikur und Lukrez nicht unbedingt die Existenz von Göttern, doch wenn es sie gab, kümmerten sie sich nicht um das Tun der Menschen. Dieses Tun habe sich daher nach einem inneren Moral-Kompass zu richten, ohne Furcht oder Hoffnung auf jenseitige Strafe oder Belohnung. Und die Bausteine unserer rein diesseitigen Welt waren kleinste Partikel (Atome).

Lukrez nahm also wesentliche Aspekte modernen Denkens voraus, und für den US-amerikanischen Literaturhistoriker Stephen Greenblatt stellt Bracciolinis Fund den entscheidenden Durchbruch der Renaissance dar, wie er in seinem 2011 erschienene Buch „Die Wende“ („The Swerve“) argumentiert. Ob und wieweit sich der Beginn eines modernen Denkens auf einen so bestimmten Punkt festlegen lässt, ist seitdem in der Fachwelt heiß diskutiert. Greenblatts Buch bleibt jedenfalls ein spannender Einblick in die Geistesgeschichte zur Zeit eines Konzils, das diese Geistesgeschichte seinerseits nachhaltig prägte.

Franz Metzger

 

 

 

 

 

Zuletzt geändert: 11.06.2015

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