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Interview mit Dag Nikolaus Hasse

Als Europa seine Wurzeln vergaß

Der Würzburger Philosoph Dag Nikolaus Hasse rüttelt am Bild des Humanismus: Stieg er auf, weil Europas Gelehrte arabische Ideen bewusst verdrängten?

In seinen Forschungen verfolgt Dag Nikolaus Hasse das komplexe Verhältnis zwischen arabischem Einfluss und dem Denken der Renaissance | © Bayerischer Rundfunk

Herr Hasse, woher rührt der Höhepunkt arabischer Traditionen in der Renaissance?

Dag Nikolaus Hasse: Das lag hauptsächlich am Aufschwung der zahlreichen Universitäten in Europa. Dort hat man viele arabische Autoren in lateinischen Übersetzungen gelesen, etwa Averroes in der Philosophie und Avicenna in der Medizin.

Können Sie das erläutern?

Dag Nikolaus Hasse: In der Renaissance war zum Beispiel das Interesse an Astrologie ungeheuer groß: Päpste und Könige, Bürger und Bauern bemühten sich um astrologische Beratung. Viele Universitäten beriefen einen Professor, der ein Jahreshoroskop verfasste. Für die Stadt übernahm das der Stadtphysikus. Werke arabischer Astrologen dienten dafür als Referenzliteratur. In der Medizin hing der Aufschwung unter anderem mit Botanik und Pharmakologie zusammen: Die Araber hatten viele Heilpflanzen entdeckt und waren Meister des Rezeptwesens, also gemischter Heilmittel.

„Sie haben alle arabischen Wissenschaftler über einen Kamm geschoren“

Warum verdrängte man dieses Wissen dann in Europa?

Dag Nikolaus Hasse: Die Humanisten forderten die Rückkehr zur Antike. Ein Stück weit war das berechtigt, denn sie hatten Defizite in arabischen Fachtexten erkannt: Wissenschaft war damals auf bestimmte Gründerfiguren bezogen. Wenn man aber Ptolemäus oder Aristoteles vom Griechischen ins Syrische, dann ins Arabische und von dort ins Lateinische übersetzte, blieb zwangsläufig Information auf der Strecke. Die Humanisten forderten daher ein „Zurück zu den Quellen“.

Das klingt eigentlich sehr positiv.

Dag Nikolaus Hasse: Durchaus. Bei radikalen Humanisten verfestigte sich diese Einstellung aber zu einer Ideologie. Sie haben alle arabischen Wissenschaftler über einen Kamm geschoren.

Wie wirkte sich das aus?

Dag Nikolaus Hasse: In manchen Bereichen war der Einschnitt dramatisch. In der Medizin verschwanden die arabischen Autoritäten Anfang des 16. Jahrhunderts an vielen europäischen Universitäten von den Lehrplänen – und damit auch viele Fortschritte der arabischen und mittelalterlichen Medizin.

„Manches Wissen ist Europa dadurch verloren gegangen“

Hat sich niemand dagegen gewehrt?

Dag Nikolaus Hasse: Natürlich. Nicht nur Anhänger arabischer Wissenschaft, auch gemäßigte Humanisten haben sich gegen diese radikalen Ideen gewehrt. Und die Apotheker wollten ohne arabische Heilmittel nicht auskommen. Ende des 16. Jahrhunderts kehrten daher arabische Autoren wieder auf die Lehrpläne zurück. Die radikalen Ideen setzten sich also nicht völlig durch, aber manches Wissen ist Europa dadurch verloren gegangen.

Inwiefern spürt man das bis heute?

Dag Nikolaus Hasse: Averroes etwa verschwand fast ganz aus unserem kulturellen Gedächtnis – obwohl er wie viele andere arabische Wissenschaftler etwa 400 Jahre lang Bestandteil europäischer Kultur waren. Wer würde Avicenna kennen, wenn nicht der Film „Der Medicus“ wäre? Beide waren damals berühmte Namen – wie heute etwa Kant oder Röntgen. Auch ohne einschlägiges Studium kannte jeder akademisch Gebildete der Renaissance diese arabischen Namen.

Warum ist der Aspekt so wichtig?

Dag Nikolaus Hasse: Europa besteht nicht nur aus christlichen und griechischen Traditionen. Wir sollten nicht vergessen, dass wir mit der islamischen Welt eine gemeinsame Vergangenheit teilen.

 

Das Interview führte Sebastian Kirschner

Zuletzt geändert: 09.03.2017