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Dekameron

Boccaccio und die Lust am Leben

Boccaccio schuf vor dem Hintergrund der Pestepedemie von 1348 eines der bahnbrechenden Werke der Weltliteratur, das „Dekameron“: witzig, scharf – und randvoll mit Sex. Aber wer war dieser Giovanni Boccaccio?

Boccaccio

Giovanni Boccaccio kam 1313 in Florenz zur Welt, wo er auch 1375 starb. Mit dem Dekamerion schuf der Autor Weltliteratur. |© istockphoto.com/iljacker

 

Florenz 1348. Vorboten des Todes sind juckende Stellen mit blauschwarzem Umfeld. Zwei bis drei Tage später schwellen die Lymphknoten an. Es folgen Kopfschmerzen, Fieber, Benommenheit. Hautblutungen, innere Schmerzen, Wahnvorstellungen. Am Hals, in den Achselhöhlen, in der Leistenbeuge bilden sich bläulich-schwarze Beulen von der Größe eines Hühnereis, reißen auf und speien Eiter aus. Nach einigen Tagen fällt der Kranke ins Delirium und stirbt. Der Schwarze Tod hat ihn aus dem Leben gerissen.

In der Stadt ist es still geworden. Man hört nur das Rollen der Pestkarren. Viele Leichen liegen einfach in den Straßen – man hat sie aus dem Haus geworfen. Auf Bestattungsriten wird schon lange verzichtet. Hat Gott die Menschen aufgegeben? Vielleicht ist dies das Ende der Welt, vielleicht wird keiner überleben.

Auf der Flucht vor dem Schwarzen Tod

In einer Kirche treffen sich sieben junge Frauen und drei junge Männer. Sie beschließen, in ein Landhaus auszuweichen – vielleicht können sie dem Tod dort entrinnen. Das Haus liegt in den grünen Hügeln der Toskana und hat einen Keller voller Wein. Fern von Leid und Agonie verbringen die jungen Leute dort einen zweiwöchigen Urlaub. Sie tanzen, singen und erzählen sich Geschichten. Jeden Tag ist jeder einmal dran, wobei sie an zwei Tagen in der Woche aussetzen. So kommen sie auf insgesamt 100 Geschichten. Die meisten sind ebenso komisch wie erotisch – und damit bestens geeignet, von der Todesgefahr abzulenken. In einer existentiellen Krise, die alle Gewissheiten infrage stellt, entwerfen die Zehn eine Gegenwelt. Die Botschaft ihrer Geschichten lautet: Bejahe das Leben, genieße die Freuden der Liebe und lass dir den Spaß nicht von der Kirche verderben, denn die Priester sind nur Heuchler.

In einer der Geschichten wird die junge Nonne Lisabetta zusammen mit ihrem Liebhaber erwischt. Sofort eilt die Äbtissin herbei und liest ihr die Leviten. Die beschämte Nonne hört schweigend zu, bis ihr Blick auf den Kopfputz der Äbtissin fällt: Die Schwester Oberin trägt nicht etwa ihre Haube, sondern hat sich die Hose eines Mannes auf den Kopf gestülpt. „Knüpft Euch doch nur erst Eure Haube fest und sagt mir dann, was Ihr wollt“, sagt sie zu ihr. Die Äbtissin wird noch wütender: „Was schwatzest du von Haube, lasterhaftes Geschöpf? Hast du noch die Unverschämtheit zu spotten?“ Darauf das Mädchen ungerührt: „Ich bitte Euch, knüpft die Bänder an Eurer Haube fest, ehe Ihr mir etwas Weiteres sagt.“

Nun fällt auch den anderen Nonnen auf, dass es keine Haube ist, was die Äbtissin trägt. Die tastet ihren Kopf ab und merkt: Oh nein, das ist nicht meine Haube! So muss auch sie gestehen, dass sie es gerade mit einem Priester getrieben hat. Als sie geweckt wurde, um Lisabetta auszuschimpfen, muss sie in der Dunkelheit dessen Hose erwischt haben. Prompt beurteilt sie die ganze Angelegenheit wesentlich lockerer und gibt unumwunden zu, „dass es unmöglich sei, dem Stachel des Fleisches zu widerstehen“. Die frivole Geschichte endet mit den Worten: „Sie erlaubte einer jeden, sich im Stillen ihren Zeitvertreib zu verschaffen. Sie entließ das junge Mädchen, begab sich mit ihrem Priester wieder zu Bett, und Lisabetta verfügte sich gleichfalls wieder zu ihrem Liebhaber. Die anderen hingegen, die noch keinen Liebhaber hatten, suchten insgeheim, so gut sie konnten, ihren Bedürfnissen abzuhelfen.“

Calandrino: Ein schwangerer Mann

In einer anderen Geschichte redet ein Arzt einem gewissen Calandrino ein, dass er schwanger sei. Der arme Mann fällt aus allen Wolken. Im Beisein des Arztes macht er seiner Frau Tessa die bittersten Vorwürfe: „Daran bist du schuld! Hab ich dir nicht längst gesagt, es würde nimmer gut gehen, dass du stets oben liegen willst!“ Die Frau errötet und verlässt schnell das Zimmer. Calandrino bekommt es indessen mit der Angst zu tun – wie soll er die Geburt nur durchstehen? „Man hört ja, welchen Zeter die Weiber anheben, wenn das Gebären losgeht, und sie haben doch ganz andere Mittel und Wege, groß genug, sich ihrer Bürde zu entledigen. Ich aber glaube, ich müsste vor Schmerzen den Geist aufgeben.“ Der Arzt verspricht ihm daraufhin, einen Trank zuzubereiten, der die Schwangerschaft binnen drei Tagen beenden wird. Calandrino nimmt die Medizin brav ein, und am vierten Tag verkündet ihm der Arzt seine vollständige Genesung. Calandrino ist unendlich erleichtert und rühmt fortan überall die großen Künste des Medicus, der ihm „in drei Tagen ohne alle Schmerzen die Schwangerschaft vertrieben“ habe.

„Sobald er [der Leser] nur einige Übung erlangt hat, wird ihm über den Seiten dieses Buches sein, als höre er Vögel zwitschern, Kinder lachen und Wasser rauschen; eine solche innere Kraft und freudige Lebensfülle ist in dieser Sprache verborgen“, so Hermann Hesse über Boccaccios „Dekameron“.

Wer war Boccaccio?

Die 100 pikanten Geschichten aus dem Landhaus bei Florenz, einschließlich der Vorgeschichte und der Rahmenhandlung, bilden eines der einflussreichsten Werke der Weltliteratur. Das „Dekameron“ wurde zum Vorbild aller nachfolgenden Novellensammlungen und Prosaerzählungen. Wer war aber der Mann, der solch ein bahnbrechendes Werk hervorgebracht hat? Giovanni Boccaccio wurde 1313 entweder in Florenz oder in einem Dorf in der Nähe von Certaldo geboren, von wo seine Familie stammte. Wahrscheinlich war er ein uneheliches Kind, denn über seine Mutter ist nichts bekannt. Der Vater war ein reicher Kaufmann und arbeitete für das mächtige Bankhaus Compagnia dei Bardi. Boccaccio wuchs in Florenz auf, damals einer der größten Städte Europas mit 100 000 Einwohnern, einem wegweisenden Handels- und Bankensektor und einer republikanischen Verfassung. Man nimmt an, dass Boccaccio von einem Privatlehrer schon früh eine literarische Ausbildung erhielt, die auch die Werke Dantes (* 1265, † 1321) umfasste; Dante hatte mit seiner „Göttlichen Komödie“ das Italienische zur Kultursprache erhoben – es war nun akzeptiert, wohingegen man vorher nur in Latein geschrieben hatte. Später verfasste Boccaccio die erste Dante-Biografie und schrieb die „Göttliche Komödie“ eigenhändig ab.

Boccaccio sollte in den Fußspuren seines Vaters ebenfalls Bankier werden, doch er konnte sich damit nicht anfreunden und überredete seinen Vater schließlich, ihn in Neapel Jura studieren zu lassen. Mit Jura konnte er allerdings genauso wenig anfangen, stattdessen widmete er sich dem Studium der Literatur und unternahm bald selbst erste Versuche als Dichter. 1340 kehrte er nach Florenz zurück. Die folgenden Jahre wurden ein schwarzes Jahrzehnt in der Geschichte der Stadt: Zunächst errichtete der Condottiere Walter von Brienne eine Schreckensherrschaft, bis er 1343 gestürzt und vertrieben wurde, dann folgten eine Hungersnot und schließlich die furchtbare Pestepidemie, der drei von fünf Einwohnern zum Opfer gefallen sein sollen. Ob Boccaccio die Pest in Florenz selbst miterlebt hat, ist ungewiss – er scheint in dieser Zeit meist in Ravenna gewesen zu sein, um dort Förderer zu finden. Unmittelbar nach der Pest, um 1349, begann er mit der Arbeit am „Dekameron“, das er bis 1352 fertigstellte.

Danach konzentrierte er sich auf seine politische Laufbahn, die ihn als Gesandten von Florenz unter anderem nach Mailand, Avignon, Rom und Venedig führte. Seit 1350 war Boccaccio eng mit dem anderen großen italienischen Dichter seiner Zeit befreundet, mit Francesco Petrarca (* 1304, † 1374). Petrarca begeisterte sich für die Wiederentdeckung der Antike und wurde dadurch zu einem Wegbereiter von Humanismus und Renaissance. Er beeinflusste auch Boccaccio stark – dieser nannte ihn seinen Lehrer und „Magister“. Boccaccio vertiefte sich nun in das Studium griechischer und lateinischer Texte und schrieb daraufhin auch selbst in Latein. Inhaltlich strahlt sein Spätwerk nicht mehr die Lebensfreude des „Dekameron“ aus – über Frauen schrieb er nun eine bittere Satire, „Il Corbaccio“ („Die Krähe“), was möglicherweise auf persönliche Enttäuschungen zurückzuführen ist. Der Ton wird deutlich pessimistischer; zusammen mit Petrarca war er der Meinung, dass die Welt „nie von Lastern und den Geschöpfen des Lasters dichter bevölkert“ gewesen sei. Dies entsprach zum einen dem Zeitgeist, zum anderen könnte es auch damit zu tun gehabt haben, dass Boccaccio während der letzten zwanzig Jahre seines nach damaligen Maßstäben langen Lebens schwerkrank war. Er starb 1375 im Alter von 62 Jahren.

Boccaccio kritisierte Mönche und Priester, nicht die Religion

Boccaccio wird heute zuweilen als ein Autor dargestellt, der bereits ganz auf das Diesseits ausgerichtet war und für die Religion nur noch Spott übrig hatte. Damit habe er in radikaler Opposition zur Gesellschaft der damaligen Zeit gestanden. Eine solche Sicht ist jedoch völlig anachronistisch. Boccaccio war selbstverständlich ein gläubiger Mensch – etwas anderes war im Mittelalter gar nicht denkbar. Er kritisierte nicht die Religion an sich, sondern Vertreter der Kirche wie Mönche und Priester, die ihren eigenen Idealen in keiner Weise gerecht wurden. Damit stand er nicht allein; er gab vielmehr die in Florenz vorherrschende Haltung wieder.

Während die Klöster auf dem Lande noch über große Macht verfügten und Gehorsam und Frömmigkeit einforderten, zählten in der kosmopolitischen Kaufmannsrepublik bereits Unternehmergeist, Risikofreude, Bildung und Witz. Das „Dekameron“ ist durchdrungen von dieser merkantilen Ethik und wirkt deshalb so modern, weil diese Wertvorstellungen zukunftsweisend waren. Noch im heutigen kapitalistischen System scheint weiterhin das Florenz des 14. Jahrhunderts durch.

Christoph Driessen

Dieser Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 4/2013: „Alexander der Große“

Zuletzt geändert: 09.12.2015