Wie gelangte das Turiner Grabtuch nach Frankreich? Der Templerorden soll das mysteriöse Bild eines bärtigen Mannes auf Stoff verehrt haben, das ihm während der Kreuzzüge zufiel. Als der Orden zerschlagen wird, vermacht der Großmeister es einem Verwandten.
Am Eingang der Kathedrale wurde Papst Benedikt XVI. eine breite Stola über die weiß glänzende Pelerine gelegt. Schweigen umgab ihn, als er vor dem Grabtuch in die Knie ging. Nur das Klacken von Kameras war zu hören. Für die anwesenden US-Fotografen war das „das Bild des Jahres“.
Die wachen Augen des Heiligen Vaters suchten das Tuch über ihm ab. „Was sagt es uns?“, fragt er in die atemlose Stille. „Es spricht durch das Blut, und das Blut ist Leben … Liebe Freunde, wir wollen den Herrn immerdar für seine treue und erbarmende Liebe loben. Wenn wir diesen heiligen Ort verlassen, tragen wir in unseren Augen das Bild des Grabtuches, tragen wir im Herzen dieses Wort der Liebe und loben Gott mit einem Leben voller Glauben, Hoffnung und Liebe. Danke.“ Tief ergriffen verließ der Pontifex Maximus die Turiner Basilika San Giovanni Battista.
Zwei Millionen Pilger besuchen das Grabtuch
Es war der 2. Mai 2010. Zum ersten Mal seit zehn Jahren war die Reliquie wieder für einige Wochen ausgestellt – und über zwei Millionen Pilger aus aller Welt strömten herbei, um dem »Grabtuch Christi« ihre Reverenz zu erweisen. Das Objekt der religiösen Verehrung ist ein 4,37 Meter langes und 1,11 Meter breites Tuch. Es zeigt den Schatten der Vorder- und Rückseite eines bärtigen, 1,81 Meter großen Mannes mit schweren Verletzungen am gesamten Körper. Unmittelbar nach seinem Tod wurde ihm auch noch eine große Wunde zwischen den Rippen beigebracht. Dieses Bild aus Blut und Todesschweiß deutet auf ein Martyrium durch Kreuzigung hin. Nach der Überlieferung handelt es sich um das im Evangelium genannte Grabtuch, das genutzt wurde, um den Körper von Jesus Christus nach seiner Abnahme vom Kreuz einzuhüllen. Ist es wirklich ein Porträt Jesu?
Erwiesen ist zweifelsfrei, dass in dem Tuch ein Mann lag, der exakt auf die gleiche Weise zu Tode kam wie Jesus von Nazareth im Jahre 30 in Jerusalem. Doch ist der Mann auf dem Grabtuch von Turin wirklich der Heiland gewesen, ist das Textil tatsächlich so alt – und wo kommt es eigentlich her?
Die »Mutter aller christlichen Reliquien« ist im westlichen Europa seit dem 14. Jahrhundert bekannt. Besitzer der Reliquie war der tief religiöse Graf Geoffroy de Charny (* um 1300, † 1356), der im Hundertjährigen Krieg tapfer für Frankreich focht. Die Grafen von Charny zählten zwar nicht zum französischen Hochadel, standen aber in enger Beziehung zum Königshaus: König Johann II. der Gute (1350 – 1364) kaufte Geoffroy für 12.000 Gulden aus englischer Gefangenschaft frei und machte ihn zum Bannerträger des Heeres.
Wie kam das Grabtuch nach Frankreich
Aus Dank für seine Befreiung stiftete Graf Geoffroy 1353 die Kirche Notre Dame de Lirey. Wohl möglich, dass er dies nur tat, um für das Grabtuch einen würdigen Aufbewahrungsort zu haben, denn schon 1357 soll Geoffroys Witwe Jeanne de Vergy das Gewebe erstmals ausgestellt haben. Und noch im selben Jahr meldeten sich die ersten Zweifler – oder Neider. Der Bischof von Arcis schrieb nach Rom: »Der Dekan von Lirey, von Habsucht verzehrt, hat ein mit Schlauheit gemaltes Grabtuch angeschafft.«
Wie aber gelangten die Grafen von Charny in den Besitz des wie aus dem Nichts auftauchenden Textils? Es spricht vieles dafür, dass es sich um das legendäre »Mandylion von Edessa« handelt, das 1204 in Konstantinopel nach dem vierten Kreuzzug spurlos verschwand. In der Antike war Edessa – das heutige Urfa in der Osttürkei – die Hauptstadt von Osrhoene, das als erstes christliches Königreich in die Geschichte einging. Dort wurde eine achtfach gefaltete Stoffbahn mit dem Christusbild verehrt, die entfaltet ein Ganzkörperbild zeigte. In Anlehnung an das arabische Wort für »Tuch« wurde es auch als „Mandylion“ bezeichnet. 943 gelangte es in byzantinische Hände und wurde in einen goldenen Schrein der Palastkapelle überführt. Nur hochgestellte Besucher des Kaisers bekamen es zu Gesicht.
Über die Frage, wie die Reliquie nach Frankreich gelangte, gibt es die wildesten und mehr oder weniger gelehrten Abhandlungen. Eine der wahrscheinlicheren Annahmen ist die Templerthese: Dem Templerorden wird nachgesagt, das mysteriöse Bildnis eines bärtigen Mannes auf Stoff verehrt zu haben, das ihnen im Zeitalter der Kreuzzüge »zufiel«. Der französische König Philipp IV. der Schöne (1285 – 1314) zerschlug den Orden wegen vorgeblicher Ketzerei und sexueller Ausschweifungen. Anno 1314 starb auf einem Scheiterhaufen in Paris mit dem Großmeister Jacques de Molay auch ein gewisser Geoffroy de Charnay, Ordensmeister der Normandie.
Die Reliquie in den Wirren des Hundertjährigen Krieges
Wegen der frappierenden Namensähnlichkeit mit den Grafen von Charny gehen Anhänger dieser These davon aus, dass der verbrannte Geoffroy de Charnay wohl ein Verwandter der in Lirey ansässigen Grafen gewesen sei – und das ominöse Tuch rechtzeitig vor seiner Hinrichtung den Familienangehörigen in der Champagne zur sicheren Aufbewahrung übereignet habe.
Dann geriet das Grabtuch in die Wirren des Hundertjährigen Krieges. Schließlich gelangte es 1453 in die Hände des Herzogs Ludwig von Savoyen (1439 – 1465). Im Jahr 1502 fand die Reliquie ihren Standort in der Schlosskapelle von Chambéry, der Hauptstadt von Savoyen. Am 4. Dezember 1532 verwüstete jedoch ein Feuer das Kirchenhaus und verursachte erhebliche Brandschäden.
1578 verlegten die Herzöge von Savoyen ihre Residenz nach Turin. Unter Festtagsatmosphäre und Kanonensalven hielt am 14. September des Jahres auch das Grabtuch Christi Einzug in die Stadt, genauer in die Kathedrale San Giovanni Battista. Das heilige Tuch wurde in den ersten Jahrzehnten seines Turiner Aufenthalts wohl jedes Jahr ausgestellt. Seit 1933 ist das Grabtuch allerdings nur noch zu hohen kirchlichen Feiertagen beziehungsweise Jubiläen zu sehen. Die Wirren des Zweiten Weltkriegs überstand das Textil in der Wallfahrtskirche Santuario di Montevergine bei Avellino.
Nach dem Ende der Monarchie 1946 blieb die Reliquie zwar formal im Besitz des letzten Königs Umberto II., de facto ging sie aber in die Verfügungsgewalt des Kardinals von Turin über. Als Umberto 1983 starb, kam sie durch Vererbung an den Heiligen Stuhl; seitdem ist der Papst Eigentümer des heiligen Tuchs. Doch sechzehn Jahre später hätte es der Heilige Vater beinahe verloren.
Ein Feuerwehrmann rettet das Grabtuch
Am 11. April 1997 wütete im Hauptgebäude des Turiner Doms ein verheerender Brand. Unter Einsatz seines Lebens zerschlug der Feuerwehrmann Mario Trematore mit wuchtigen Hammerschlägen das Panzerglas – und rettete die Reliquie vor der Vernichtung. »Super-Mario« wurde zum nationalen Helden.
Seit 2000 wird das Leichentuch Christi in ausgestreckter, flacher und waagrechter Stellung in einem luftdichten Metallbehälter aufbewahrt. Bei der Konstanthaltung der Innentemperatur griff man auf die neuesten Entwicklungen der Luft- und Raumfahrttechnologie zurück. Der Behälter wiederum liegt in einem »Sarkophag«, gefertigt aus einer speziellen, feuerfesten Mehrschichtenstruktur.
Das ist, soweit rekonstruierbar, die Geschichte der von den Gläubigen schlicht »La Sindone« (»Das Grabtuch«) genannten Textilie. Doch die Chronologie sagt nichts über den »Wahrheitsgehalt« des Tuchs aus. Eine systematische Erforschung des Stoffs begann erst im 20. Jahrhundert.
Auf dem Tuch finden sich Blutspuren
Schon einfache Untersuchungen zeigten, dass das aus zwei Teilen zusammengenähte Grabtuch aus ungefärbtem Naturleinen besteht, dessen Fäden aus Flachsfasern gesponnen sind. Im Laufe der Jahrhunderte hat das Leinen schwer gelitten. An zahlreichen Stellen im Gewebe finden sich Blutspuren. Auf den ersten Blick stechen zwei dunkle Streifen von wechselnder Stärke ins Auge. Dabei handelt es sich um Beschädigungen aus dem Brand von Chambéry anno 1532.
Schon bei der Betrachtung mit bloßem Auge zeichnet sich ein Körperbild ab. Dann kam durch den Fotografen Secondo Pia buchstäblich die Erleuchtung: Am 25. Mai 1898 erstellte Pia eine erste Fotografie der Reliquie, die anlässlich des Jubiläums der italienischen Verfassung ausgestellt wurde. Und siehe da: Mit der Umkehrung der Hell-Dunkel-Werte auf dem Fotonegativ wurden die Gesichtszüge des auf dem Leinentuch abgebildeten Mannes erstmals klar erkennbar. Als die Fotos veröffentlicht wurden, lösten sie bei Wissenschaft und Forschung, in der Kirche und bei den Gläubigen ein Erdbeben aus.
Damit war die Tür zu weiteren wissenschaftlichen Forschungen geöffnet: von folgenden Fotoaufnahmen 1931 über erste Farbbilder der Reliquie 1969 und die erste internationale wissenschaftliche „Grabtuchkonferenz“ 1977 in den USA, über diverse Labortests 1978 bis zu einem umfangreichen Radiokarbontest 1988, der die Entstehung des Grabtuchs auf das 14. Jahrhundert datierte. Doch Radiokarbontests sind selbst in Wissenschaftskreisen umstritten. Nach einer umfassenden Restaurierung 2002 erfolgte sechs Jahre später die Erfassung der gesamten Textilie mit Hilfe eines modernen Hochleistungsscanners.
Aramäische Schriftzeichen auf der Reliquie?
2009 will Barbara Frale, Historikern im Geheimarchiv des Vatikans, gar aramäische Schriftzeichen auf dem Grabtuch entdeckt haben. Aramäisch war die Umgangssprache in Palästina zur Zeit Jesu Christi, allerdings auch noch weit darüber hinaus. Noch im gleichen Jahr ließ der italienische Chemieprofessor Luigi Garlaschelli ein künstliches Grabtuch in mittelalterlicher Fertigungsweise herstellen – täuschend ähnlich dem Original, wie die Augenzeugen vermeldeten.
Doch was sagen uns nun all die Forschungen über diese Reliquie, die schon ein eigenes Fachgebiet, die Sindonologie, hervorgebracht hat, über die „wahre“ Echtheit des heiligen Tuchs zu Turin? Die Summe der Indizien, nicht zuletzt die offensichtlichen Spuren einer Dornenkrönung und die Seitenwunde, deuten darauf hin, dass der Abgebildete Jesus von Nazareth ist. Einen eindeutigen Beweis dafür haben jedoch alle Forschungen noch nicht erbringen können. Letztlich entzog sich das Grabtuch bis heute einem unwiderlegbaren naturwissenschaftlichen Beweis für seine Authentizität.
Die Katholische Kirche legt sich nicht fest
Und die katholische Kirche? Auch sie vermeidet, trotz aller Verehrung, eine offizielle Festlegung. Das Grabtuch wird von ihr jedenfalls nicht als »wahrhaftige« Passionsreliquie anerkannt. Grundsätzlich unterscheidet die katholische Glaubenslehre zwischen Körperteilen einer heiligen Person als primären Reliquien und mit einer heiligen Person in Berührung gekommenen Gegenständen als sekundären Verehrungssujets. Das Leichentuch Christi gehört in diese zweite Kategorie. So spricht -sogar das Turiner Domkapitel stets nur von einem »uomo della sindone«, einem »Grabtuch-Mann«.
Auch Papst Benedikt XVI. verwies bei seinem Turiner Besuch auf seine Art auf das die Welt faszinierende Mysterium, indem er an die „Verborgenheit von Gottes Sohn am Karsamstag“, dem Tag der Grabesruhe, erinnerte. Und er interpretierte diese Verborgenheit in einem modernen Sinne, nämlich als Erfahrung der zeitgenössischen Menschen „mit ihrer Leere im Herzen, die sich immer weiter ausgebreitet hat“. Der Heilige Vater zitierte schließlich, auf das heilige Tuch hinweisend, den deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche: „Gott ist tot! Und wir haben ihn getötet!“
Harry D. Schurdel
Zuletzt geändert: 28.03.2015