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Sowjetunion in der Krise

Der Ungarn-Aufstand 1956

„Imre Nagy an die Macht!“ Mit diesem Slogan zogen Studenten 1956 durch Budapest. Der „Ostblock“ stand auf des Messers Schneide.

 

Denkmal Ungarnaufstand 1956

In Ungarn wurden zahlreiche Denkmäler für die Opfer des Ungarnaufstandes von 1956 errichtet. Einige davon sind umstritten. | © istockphoto/kozmabelatibor

 

Ausgelöst hatte die Krise kein Geringerer als der neue Generalsekretär der KPdSU, Nikita Chruschtschow. Auf dem XX. Parteitag im Februar 1956 hatte er mit dem Stalinismus als einem brutalen Unterdrückungssystem abgerechnet. Dabei ließ er die Möglichkeit von „unterschiedlichen Wegen zum Sozialismus“ offen, was zu einer „begrenzten Vielfalt in der Einheit“ des kommunistischen Blocks führen könnte. Diese Idee wurde in den osteuropäischen Staaten, die nach 1945 unter den Einfluss der UdSSR geraten waren, umgehend aufgegriffen.

Polen erlebte nun seinen „Frühling im Oktober“, in dessen Verlauf der in Ungnade gefallene Nationalkommunist Wladyslaw Gomulka wieder die Führung der Arbeiterpartei übernahm. Dieser Erfolg ermutigte die Ungarn, ihrerseits mehr demokratische Rechte wie die Pressefreiheit, ein Mehrparteiensystem und den Abzug der Roten Armee zu fordern. Ausgangspunkt der Bewegung war der studentische „Petöfi-Klub“, benannt nach dem Freiheitsdichter der ungarischen Revolution von 1848/49, Alexander Petöfi.

Die Opposition will Imre Nagy

Schon im Juni 1956 war der stalinistische 1. Sekretär der KPU, Matyás Rákosi, gestürzt und durch Ernö Gerö abgelöst worden. Das reichte der ungarischen Opposition nicht. Sie wollte den – mehrfach in Ungnade gefallenen und wieder rehabilitierten – Reformkommunisten Imre Nagy (gesprochen „Nodsch“) als Ministerpräsidenten. Am 24. Oktober wurde diese Forderung erfüllt, um dem „kommunistischen Regime zur Verzierung der Fassade einen Führer“ zu geben, der der „öffentlichen Meinung genehm“ wäre – so der spätere Kommentar von Zeitzeugen vor einem Ausschuss der Vereinten Nationen.

Der vermeintliche Triumph der Demonstranten war nur der Auftakt zu dramatischen zwei Wochen, an deren Ende die Hoffnungen in Blut erstickten. Peter Gosztony, der diensthabende Offizier in der Kilian-Kaserne, notierte noch am 23. Oktober in sein Tagebuch: „Morgens nach der Tagwache nahm die Kaserne wie stets ihr gewöhnliches Gesicht an: Die Soldaten zogen aus, zurück blieben nur die Wache und der Dienst. Wir hatten nicht viel zu tun, gewöhnliche Routinearbeit.“

Plötzlich Schüsse auf friedliche Demonstranten

Am Abend dieses Tages spricht Imre Nagy vom Balkon des Parlamentsgebäudes zu den Aufständischen. Als er die Anwesenden mit „Genossen!“ anredet, lösen Buh-Rufe den vorher aufbrausenden Beifall ab. Der Schriftsteller Tibor Méray begriff: „In diesem Augenblick musste jeder erkennen, dass die Ungarn nicht nur Stalin und Rákosi, sondern jede Diktatur der Partei ablehnten.“ Zwischen 21 und 22 Uhr verwandelte sich die bis dahin friedliche Demonstration zum Straßenkampf. Aus den Reihen des Staatssicherheitsdienstes AVH war in die Menge geschossen worden. Der Medizinstudent János Pál erinnert sich: „Über Waffen verfügte nur die AVH. Aber desto lauter, desto aufgeregter und mit einer unbeschreiblichen Wut brandeten die Schreie der Massen an den Mauern hoch: ‚Mörder seid ihr AVH-Leute!’ ‚Tod der AVH!'“

In den folgenden Tagen weiteten sich die Demonstrationen zu Kämpfen in ganz Ungarn aus. János Kádár löste Ernö Gerö als 1. Parteisekretär ab, am 27. Oktober bildete Imre Nagy als neuer Ministerpräsident eine Regierung, der auch zwei Nicht-Kommunisten angehörten. Am darauffolgenden Tag erließ die Regierung Nagy um 13.20 Uhr eine Anordnung, in der die „allgemeine sofortige Waffenruhe“ proklamiert wurde. Die Aufständischen akzeptierten sie – auch bedingt durch einen Kommentar des staatlichen Rundfunks von 14.20 Uhr. Dieser erklärte das „Ende des unglücklichen Bürgerkriegs“, der letztlich durch acht Jahre des Stalinismus in Ungarn, dem „wilden Wüten des Despotismus“, entstanden sei.

Ungarn hofft auf mehr Freiheit

Auch die Parteizeitung „Szabad Nep“ sah in ihrer Ausgabe vom 29. Oktober in der Waffenruhe und dem Abzug der sowjetischen Truppen einen Sieg für das ungarische Volk. Der Leitartikel endete mit den erwartungsvollen Worten: „Über dem ungarischen Vaterland bricht die Morgendämmerung an. Wir grüßen diesen neuen Morgen mit den wachsamen Augen einer gereiften und siegreichen Nation“.

Trotz – oder wegen? – des weitverbreiteten Gefühl des Sieges rief Imre Nagy in seiner Rundfunkansprache vom 30. Oktober seine Landleute zur Besonnenheit auf: „Ungarische Brüder und Patrioten! Sichert die Errungenschaften der Revolution! Wir müssen in erster Linie Ordnung schaffen … Verhütet weitere Unruhen! Kämpft mit aller Kraft für die Sicherheit des Lebens und des Eigentums!“

Nagy bittet die UNO um Hilfe

Doch schon am 31. Oktober marschieren weitere Sowjettruppen in Ungarn ein – just an dem Tag, an dem Ministerpräsident Nagy den Austritt seines Landes aus dem Warschauer Pakt, dem Militärbündnis des Ostblocks, ankündigte. Einen Tag später wurde der Austritt tatsächlich vollzogen. Die Regierung Nagy rief die Neutralität Ungarns aus und bat die UNO um Hilfe im Konflikt mit der UdSSR.

Der 1. November wurde zum Wendepunkt im Ungarn-Aufstand. Nicht nur der Einmarsch von Sowjettruppen ging weiter, auch János Kádár, der neue Parteisekretär, schlug sich auf die Seite Moskaus. Kurz vorher hatte er sich in einem Interview hinter die Ziele der Aufständischen und der Regierung Nagy gestellt. Auf die Frage des italienischen Journalisten Bruno Tedeschi, ob sich der Kommunismus in Ungarn nach demokratischen Grundsätzen entwickele, antwortete Kádár: „Es wird eine Opposition geben und keine Diktatur. Diese Opposition wird gehört werden, denn ihr liegen die nationalen ungarischen Interessen am Herzen, und nicht jene des internationalen Kommunismus.“

Der Austritt aus dem Warschauer Pakt ist zu viel

Mit dieser nicht gerade moskautreuen Antwort im Gepäck reisten Kádár und Ferenc Münnich noch am selben Tag in die Höhle des Sowjetlöwen, in den Kreml. Es war lange Zeit unklar, was diesen Sinneswandel bewirkt hatte. Kádár selbst ließ sein Motiv erahnen: „Bereits am 2. November haben wir unsere Verhandlungen mit den Sowjetgenossen aufgenommen … dass der Kampf gegen die ungarische Konterrevolution aufzunehmen sei …“. Vermutlich war Nagys Vorprellen, als er den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt erklärte, Kádár schlicht zu weit gegangen.

Am 4. November begannen die Sowjettruppen den Angriff auf Budapest. Der Schriftsteller György Páloczi berichtet: „Diesmal leisteten die Russen ganze Arbeit … Kasernen, öffentliche Gebäude und Wohnhäuser wurden den Freiheitskämpfern zur Todesfalle.“ Gleichzeitig setzten die Sowjets in Szolnok eine Gegenregierung unter Kádár ein. Am 5. November versuchte General Király den ungarischen Widerstand zu organisieren; im ganzen Land brachen Kämpfe aus. Dies bereitete der Roten Armee so viele Schwierigkeiten, dass sie erst sechs Tage später in Budapest den letzten Widerstand brechen konnte. Imre Nagy und seine engsten Mitarbeiter flohen in die Botschaft Jugoslawiens und baten dort um Asyl.

Die Weltgemeinschaft lässt Ungarn im Stich

Die ungarische Revolution und die damit verknüpften Hoffnungen auf ein demokratisches und von den Sowjets unabhängiges Ungarn waren damit gescheitert. Am 11. November 1956, dem Ende des Volksaufstands, lag nach offiziellen Angaben der ungarischen Regierung die Zahl der Toten bei mehr als 3000, die der Verletzten bei 13 000. Mehr als 4000 Gebäude wurden als zerstört aufgelistet, die Zahl der ungarischen Emigranten wurde mit 200 000 angegeben. In Wirklichkeit aber sind die Verluste, vor allem die Zahlen der Toten, wohl viel höher anzusetzen.

Neben der Trauer um die Opfer und den Verlust der Freiheit erfüllte die Ungarn eine tiefe Enttäuschung über das Versagen der Weltgemeinschaft. Die Hilferufe ihres Ministerpräsidenten Imre Nagy an die UN waren folgenlos geblieben. Es war offensichtlich geworden, dass die „Neuordnung Europas“, seine Teilung durch den Eisernen Vorhang, von der restlichen Welt nicht in Frage gestellt würde. Diese Enttäuschung fand sich in den bitteren Worten eines jungen Freiheitskämpfers, der im VIII. Bezirk des Stadtteils Pest gegen die Sowjets gekämpft hatte: „Wir wurden verraten …  Man hat uns im Stich gelassen … Die ‚freie Welt’ – wo ist sie geblieben?!“

 

Ludwig-Maximilian Rathke

 

 

Zuletzt geändert: 02.06.2015