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Pioniere aus der Pfalz

Deutsche Auswanderer in Amerika

Der Wein gefriert in den Fässern, erfrorene Vögel fallen vom Himmel. Im Winter 1708/09 reift in vielen Pfälzern der Wunsch, dieses Leben hinter sich zu lassen. Sie wandern nach Amerika aus.

Freiheitsstatue USA

Viele Auswanderer versprachen sich von Amerika eine bessere Zukunft. Die Realität war oft hart. | © istockphoto.com/Onnes

 

Es hatte lange an einer Alternative gefehlt, aber jetzt, in diesem Hungerwinter, machte eine Werbeschrift die Runde, die ein lohnendes Ziel für eine Auswanderung bot: Amerika, der junge, unerschlossene Kontinent mit all seinen nicht gehobenen Schätzen! „Ausführlich- und umständlicher Bericht von der berühmten Landschafft Carolina in dem Engelländischen America gelegen“ lautete der komplizierte Titel des von einem Autor namens Joshua Kocherthal verfassten Buches, das man nicht nur wegen des Goldschnitts seiner Seiten das „Goldene Buch“ nannte. Golden waren vor allem die Träume, die es enthielt, versprach es doch eine glückliche Zukunft in einem fernen Land, den Schutz und die wohlwollende Förderung der mächtigen Kolonialmacht England und seiner Königin Anne Stuart, kostenfreie Überfahrt und Landschenkungen in Übersee, dazu Religionsfreiheit und ein Leben ohne die Zwänge einer Ständegesellschaft.

Keiner in der Pfalz fragte lange nach, wer der mysteriöse Autor dieser Schrift war, ob er aus eigener Anschauung oder nur vom Hörensagen berichtete, ob er auch die Wahrheit sagte oder gehörig übertrieb. Das in vier Auflagen erscheinende Buch wurde zum Bestseller und zum Auslöser der ersten Massenauswanderung aus deutschen Landen. 13.000 Menschen machten sich zwischen 1708 und 1709 auf den Weg nach England, um von dort aus nach Amerika zu reisen. Im Gepäck hatten sie wenig Materielles, dafür umso mehr Enthusiasmus, Träume und Hoffnungen für ein besseres Leben.

Die Pfalz war verwüstet vom Dreißigjährigen Krieg

Es war eine Abstimmung mit den Füßen. „Mit großem Trutz, ja viele mit Sackpfeifen“, so ein Augenzeuge, zogen die Auswandererscharen rheinabwärts zu den niederländischen Hafenstädten, um den Ärmelkanal zu überqueren. Dass die Abwanderungswelle ausgerechnet die Kurpfalz so hart traf, war kein Wunder. Das Land hatte schwer unter dem Dreißigjährigen Krieg gelitten und fast 70 Prozent seiner Bevölkerung verloren. Schon fast verzweifelt muteten die Versuche der Kurfürsten an, das entvölkerte Territorium neu zu „peuplieren“. Französische Hugenotten, Schweizer Mennoniten, Wallonen, Waldenser und Tiroler strömten ins Land, was das Zusammenleben mit der notleidenden einheimischen Bevölkerung nicht leichter machte. Verwüstungen infolge des Pfälzischen und des Spanischen Erbfolgekrieges ließen die Ackerflächen zusammenschrumpfen, die Menschen ächzten unter hohen Steuer- und Kontributionslasten. Missernten und eine schwere Viehseuche taten ihr Übriges, um den Pfälzern den letzten Rest Hoffnung auf bessere Zeiten auszutreiben.

Vom Auswandererfieber erfasst wurde auch jener Mann, der unter dem Decknamen Joshua Kocherthal die Werbeschrift für Carolina veröffentlichte, in Wirklichkeit aber Joshua Harrsch hieß und in Eschelbronn bei Heidelberg als protestantischer Pfarrer wirkte. Vierzehn Jahre lang versah der dreifache Familienvater still und unauffällig seinen Dienst in drei Gemeinden des Kraichgaus, bevor er seinem Leben offenbar aus Unzufriedenheit über die Lage der Lutheraner in der religiös zerrissenen Landschaft der Kurpfalz eine entscheidende Wende gab. 1706 reiste er inkognito nach London, um für sich und eine kleine Gruppen Emigranten von Königin Anne die Auswanderung nach Amerika zu erbitten. Hier kam er auch in Kontakt mit Agenten britischer Großgrundbesitzer, die an einer raschen Besiedelung und wirtschaftlichen Nutzbarmachung ihrer amerikanischen Kolonien interessiert waren. Offenbar in ihrem Auftrag verfasste Harrsch unter dem Namen Kocherthal seinen „Bericht von der berühmten Landschafft Carolina“, um weitere Siedler anzuwerben. Wie alle Reiseschriftsteller, die etwas beschrieben, was sie selbst nicht gesehen hatten, entfaltete Harrsch größte Fantasie bei der Beschreibung seines „gelobten Landes“. Es sei das Paradies auf Erden, ein Land, in dem Milch und Honig flössen, man brauche nur zuzugreifen, um sein Glück zu machen, so der deutsche Stubengelehrte, der Karl Mays spätere Erfolge auf diesem Gebiet vorwegnahm.

England unterstützt die deutschen Auswanderer

1708 reiste er zusammen mit acht Familien und drei Alleinstehenden, alle Bauern und Handwerker, erneut nach London. Königin Anne unterstützte sein Ansinnen aus eigennützigen Motiven: Sie war an der Erschließung neuer Harzvorkommen interessiert, denn Harz als Grundstoff für Pech und Teer war für den Schiffsbau unerlässlich. So gab sie ihre Zustimmung zur Ansiedlung der Harrsch-Gruppe in der Provinz New York, um für die britische Marine die Harzproduktion sicherzustellen. Für Joshua Harrsch und seine Mitstreiter war es die Krönung ihres bisherigen Lebens, als sie im Winter 1708 New York erreichten. Im folgenden Frühjahr bezogen sie die ihnen zugesprochenen Siedlungsplätze am oberen Hudson River und gründeten dort, an der Grenzlinie zum freien Indianerland, die Ortschaft Neuburg.

Die ersten Deutschen in der Neuen Welt waren sie damit allerdings nicht. Nach dem Westfälischen Frieden 1648, der den Dreißigjährigen Krieg beendete und den Landesherren die Entscheidung über die Konfession ihrer Untertanen überließ, sahen sich viele benachteiligte Gläubige, vor allem Pietisten oder Mennoniten, zur Auswanderung gezwungen. Im Auftrag der Frankfurter Pietistengemeinde hatte Franz Daniel Pastorius eine kleine Schar Auswanderer bereits 1683 nach Philadelphia, dem Hauptort der von dem britischen Quäker William Penn gegründeten Kolonie Pennsylvania geführt, der noch im gleichen Jahr eine Gruppe Krefelder Mennoniten folgte. Mit Unterstützung Penns erwarben die Deutschen vor den Toren Philadelphias 16.000 Hektar Land und begannen, es unter schwierigsten Bedingungen urbar zu machen. Allen Rückschlägen zum Trotz fassten die deutschen Auswanderer in der Neuen Welt Fuß, gründeten die Siedlung Germantown und bauten Flachs an, der von den Krefelder Webern zu Textilien weiter verarbeitet wurde. Bereits 1684 konnte Pastorius in Philadelphia ein Textilgeschäft eröffnen – der erste Schritt in eine neue Zukunft. Tatsächlich blühte Germantown in den folgenden Jahren auf. Mehr und mehr Siedler bevölkerten die kleine Stadt, die 1689 Stadtrechte erhielt. Als Gruppe blieben die Deutschen fest zusammen, pflegten ihre eigenen Traditionen und auch einen ganz eigenen Dialekt, das Pennsylvaniadeutsch, eine Mischung aus Pfälzisch, Schwäbisch und amerikanischem Englisch.

Deutsche Flüchtlinge in Zeltstädten

Trotz dieses ermutigenden Vorbildes erwartete die Auswanderer von 1708/09 ein hartes Schicksal, das schon in der alten Heimat begann. Dem Ansturm der pfälzischen Flüchtlinge waren weder die Niederlande noch Großbritannien gewachsen. In Rotterdam füllten sich die außerhalb der Stadt angelegten Auffanglager in rasender Geschwindigkeit. Nur mit viel Mühe konnten die Tausende Neuankömmlinge aus Spenden und Zuwendungen der städtischen Armenfürsorge unterhalten werden. Da die Niederlande mit England im Spanischen Erbfolgekrieg verbündet war, erklärten sich die englischen Behörden bereit, die Auswanderer auf eigene Kosten nach England zu transportieren. Dort strandeten diese jedoch wiederum in Notunterkünften und Zeltlagern. 1709 campierten rund 8.000 Deutsche in 1.600 Zelten rund um die Metropole London. Schon meldeten sich erste kritische Stimmen über die unhaltbaren Zustände in den Zeltstädten. Die Klagen über die mittellosen Palatines, die Pfälzer, wie man alle deutschen Auswanderer zusammenfassend nannte, die sich in England ohne Arbeit „durchfuttern“ ließen, wurden schärfer, sodass sich die englische Regierung zum Handeln genötigt sah. Der größte Teil der Auswanderer sollte in die Kolonie New York gebracht werden, um entlang des Hudson Rivers zu siedeln und das begehrte Harz zu gewinnen, einen kleineren Teil wollte man zur Stärkung des protestantischen Bevölkerungsteils in Irland ansiedeln, wieder andere, besonders Katholiken, schickte man nach Deutschland zurück.

Die rund 3.000 Kolonisten, die im Laufe des Jahres 1709 etwas überstürzt nach Amerika verfrachtet wurden, standen zunächst einmal vor dem Nichts. Es mangelte an allem, an Werkzeug, Saatgut, Behausungen. Nicht einmal Pflüge standen zur Verfügung. Noch dazu sollten die Neuankömmlinge die Kosten für die Überfahrt und die Unterbringung in London und New York abarbeiten, was den Familien eine hohe Schuldenlast aufbürdete. Es dauerte lange, bis sie endlich ihre Siedlungsgebiete am Hudson River beziehen konnten. Sie gründeten Livingstone Manor und weitere fünf Ortschaften, blieben aber zunächst von den Lebensmittellieferungen der Engländer abhängig. Immerhin bemühte sich Joshua Harrsch, der sich jetzt nur noch Kocherthal nannte und dessen Siedlung Neuburg nicht allzu weit entfernt lag, um das seelische Wohl seiner Landsleute. Er führte bis zu seinem Tod 1719 das erste Kirchenbuch in deutscher Sprache in Amerika und notierte gewissenhaft die Zahl der getauften Kinder, der Neuvermählten, der Verstorbenen.

Amerika wird zum Traumbild

Doch gegen Hunger und Not hatte auch der brave Prediger kein Rezept. 1711 wagten die frustrierten Pfälzer den Aufstand gegen die Engländer, erreichten damit aber nichts. Viele von ihnen sahen daher nur noch einen Ausweg: Weiterziehen ins Unbekannte. Unter der Führung des Schwaben Johann Conrad Weiser zogen etwa 50 Familien an den Fluss Schoharie, andere bevorzugten den Mohawk, der damals noch zum Jagdgebiet der Irokesen zählte. Die Einwanderer bebauten hier das Land auf eigene Faust, was ihnen jedoch Rechtsstreitigkeiten mit der britischen Krone einbrachte. Weiser, der die Interessen der Siedler erfolglos in London vertreten hatte, zog erneut weiter und strandete schließlich mit einigen Mitstreitern in Pennsylvania, wo er wiederum Land annektierte.

Trotz aller Anfangsschwierigkeiten gab es auch Erfolge zu verzeichnen. Einzelne Siedlungen blühten auf, die Böden, die man zunächst nur mit Ästen und Felsbrocken umpflügte, zeigten sich insgesamt fruchtbar. Vor allem sprach sich herum, dass man Land auch einfach illegal besetzen konnte, wenn man nur weit genug vom Zugriff britischer Behörden entfernt war. Allmählich wurde Amerika zum Traumbild, zum verklärten Mythos – zu einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten, das für den Einzelnen den größten Triumph, aber auch die größte Tragödie bereithalten konnte. Anziehungskraft besaß dieses Bild in jedem Fall – vor allem für jene, die in Europa ihr Haupt klaglos unter die alten Autoritäten Monarchie und Kirche zu beugen hatten. Der Versuch, auf eigenen Beinen zu stehen, erschien verlockender als die Gefahr des Scheiterns.

 

Karin Schneider-Ferber

 

 

Zuletzt geändert: 02.06.2015