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Einblicke in eine geheime Welt

Mythos Harem

Der Harem ist ein Aspekt der islamischen Welt, der seit jeher fasziniert. Ein französischer Arzt erhielt im 17. Jahrhundert Zutritt zum Harem des indischen Großmoguls – allerdings mit verbundenen Augen.

Harem Iran

Darstellung eines Harems auf den Fließen des persischen Schahs im Iran, 19. Jahrhundert | © istockphoto.com/radiokukka

Der französische Arzt François Bernier war vermutlich der einzige europäische Mann, der jemals den Harem des Großmogul betreten durfte. Doch blieben ihm intime Einblicke in diese abgeschlossene Welt versagt: „Ein Tuch aus Kaschmirwolle, das wie ein langer Schal bis zu den Füßen reichte, bedeckte meinen Kopf, und ein Eunuch führte mich bei der Hand, als wenn ich ein Blinder gewesen wäre.“ Welche Wunder er nicht sehen durfte, ließen ihn später die Beschreibungen des Eunuchen erahnen: Räume, die im Glanz unzähliger Spiegel erstrahlten oder mit fantastischen Gemälden geschmückt waren, und „zu allen Seiten befinden sich Gärten, reizvolle Wege, schattige Plätze, Bäche, Brunnen, Grotten, unterirdische Gemächer, die Schutz vor der Sonne bieten, windumfächerte Diwane und Terrassen, um darauf in angenehmer Kühle nachts zu schlafen.“

Der Harem des Großmoguls ist eine kleine Stadt

Die Zenana des Großmoguls, wie in Indien der Harem nach einem persischen Wort bezeichnet wurde, war eine kleine Stadt. Angeblich bevölkerten 5000 Frauen in den Tagen Akbars des Großen die Zenana von Fatehpur Sikri. Auch wenn diese Zahl mit Vorsicht zu genießen ist, lag sie höchstwahrscheinlich deutlich im vierstelligen Bereich, wie der Historiker Wilfried Westphal betont. Dabei herrschte eine strenge Hierarchie, an deren Spitze die regulären Ehefrauen des Großmoguls und die weiblichen Mitglieder der kaiserlichen Familie standen. Dann folgten die Konkubinen und schließlich das Heer der Dienerinnen und Sklavinnen.

Wie sich die erotischen Beziehungen zwischen Herrscher und Harem genau gestalteten, verhüllt ein undurchdringlicher Mantel der Diskretion. Organisiert wurde das kleine Universum der Zenana traditionell von einer Frau, die aus einer Beamtenfamilie im Polizeidienst rekrutiert wurde. Zu ihren Aufgaben zählte ein täglicher Rapport an den Großmogul. Zudem kommandierte sie das Kontingent der weiblichen Haremswächterinnen, die auch für die Sicherheit des Herrschers verantwortlich waren.

Mobiler Mogulhof: Im Sommer in die Berge Kaschmirs

Selbst die Frauen der kaiserlichen Familie durften die Zenana nur mit Erlaubnis des Herrschers und mit einer Eskorte von Sklavinnen und Eunuchen verlassen. Die Frauen reisten dann im Schutz verhüllter Sänften, damit „Unwürdige“ keine Blicke auf sie werfen konnten. In Gegensatz zu den Sultanen der Osmanen, die mit dem Topkapipalast eine feste Residenz am Bosporus hatten, verlegten die Großmoguln immer wieder ihr Machtzentrum. In den indischen Sommermonaten, wenn sich Delhi oder Agra in Glutöfen verwandelten, floh der Hof gerne in die kühlen Berge Kaschmirs. Die Frauen der Kaiserfamilie reisten dann auf Elefanten, „die wie Schiffe aus dem Meer des Fußvolkes“ herausragten, während sich die Konkubinen mit Kamelen begnügen mussten. Auf der Reise wohnten der Großmogul und seine Entourage in Zeltstädten, deren Zenanabereich besonders scharf bewacht wurde. Direkt an der Trennwand aus Stoffbahnen standen die Eunuchen, die Zugänge sicherten Soldaten.

Jahangirs Frau avanciert zur eigentlichen Herrscherin

Zwar gestattet der islamische Glaube eigentlich nur vier rechtmäßige Ehefrauen, doch die Großmoguln interpretierten diese Vorschrift großzügig. So ging Jahangir, der Sohn Akbars des Großen, insgesamt 20 Ehen ein. Als letzte Frau heiratete er 1611 eine Witwe namens Mihr an-Nissa, die als Nur Jahan („Licht der Welt“) indische Geschichte schrieb.

Die Tochter einer persischen Familie aus dem afghanischen Kandahar muss eine ungemein faszinierende Frau gewesen sein: gebildet, eine vorzügliche Polospielerin und eine Jägerin, die an einem Tag mit sechs Schuss vier Tiger erledigte. Während ihr Gatte Jahangir mehr und mehr dem Opium verfiel, avancierte sie zur eigentlichen Herrscherin des Imperiums. Da ihr die Sitte den Kontakt mit fremden Männern verbat, hatte sie ihrem Vater und Bruder zu Schlüsselpositionen am Hofe verholfen.

Luxuriöse Langeweile bestimmt das Leben

Nur war Jahan zweifelsohne eine Ausnahmeerscheinung. Für die meisten Ehefrauen und Konkubinen bestimmte luxuriöse Langeweile das Leben in der Zenana. Sie vertrieben sich die Zeit mit Literatur, Musik, Schach und gelegentlichen Intrigen. Einen Eindruck vom Luxus vermitteln die Miniaturen der Epoche. Die Kleider der Frauen sind fast transparent. Das zarte Material, aus dem sie hergestellt waren, wurde als „gewebte Luft“ gehandelt. So leicht der Stoff, so schwer der Schmuck der Frauen des Palastes. Mit den Diamanten Indiens konkurrierten Perlen, die von den Küsten Arabiens kamen. Eine noch längere Reise hatten die Smaragde hinter sich, die aus Südamerika importiert wurden. Ihre Wertschätzung hatte religiöse Gründe: Grün ist die heilige Farbe des Islams.

Im Harem der Zeit herrscht religiöse Toleranz

Wie im Reich herrschte auch in der Zenana erstaunliche Toleranz. Seit den Tagen Akbars besiegelten die Moguln ihre Bündnisse mit den kriegerischen Hindu-Fürsten Rajasthans durch Ehen. Und wer sich in den Palästen von Fatehpur Sikri oder Agra genau umschaut, entdeckt Tempel, errichtet für die Gebete dieser Rajputinnen. Wie groß der Einfluss dieser Hindu-Frauen am Hof gewesen sein muss, lässt sich auch daran erkennen, dass einige der Mogulprinzen entgegen der Vorschriften des Korans nicht beschnitten wurden.

Vermutlich hatte auch wegen der vielen Rajputinnen Rindfleisch einen sehr geringen Stellenwert in der Küche. Stattdessen servierten die Dienerinnen Lamm oder Geflügel wie Fasane und Tauben. Als vegetarische Alternative waren vor allem Linsencurrys populär. In der Regel aß der Herrscher mit einigen seiner Favoritinnen. Da die Großküche außerhalb der Zenana lag, wurden die Mahlzeiten, nachdem sie der Oberkoch kontrolliert hatte, in versiegelten Gefäßen hineingetragen. Der heute in Indien so populäre Tee war in den Tagen Akbars noch vollkommen unbekannt, stattdessen erfreuten sich die Vornehmen des Hofes am Kaffee, der von den Portugiesen aus Arabien importiert wurde. Ein noch größerer Luxus war Eis zum Kühlen des Trinkwassers, das mit einer Kette von schnellen Kurieren aus den Bergen an den Hof gebracht wurde. Auch der Genuss von Wein aus Persien oder Portugal war verbreitet: In seiner Autobiografie, dem „Baburnama“, outet sich Babur als exzessiver Trinker, und auch einige der Damen des Hofes waren diesem Getränk sehr zugetan.

Europäer in Indien ahmen den Harem nach

In Anlehnung an den Mogulhof begannen auch die hinduistischen Fürsten, ihre Frauen radikal von der Außenwelt abzusperren. Und nicht nur in den Palästen der Maharadschas fand man einen Harem, auch in den Residenzen einiger machtvoller Europäer. Einer von ihnen war David Ochterlony, der seit 1803 als Abgesandter (Resident) der East India Company die Politik am Hof zu Delhi bestimmte. Fast jeden Nachmittag, wenn die schlimmste Hitze des Tages überstanden war und der Kühle des Abends wich, bot sich den Einwohnern der Stadt ein ganz besonderes Schauspiel: Vor den Toren des Roten Forts erschienen 13 reich geschmückte Elefanten, auf jedem dieser Tiere thronte eine der indischen Frauen Ochterlonys, verhüllt in kostbarste Gewänder. Warum sollte der „weiße Mogul“ auf einen Harem verzichten?

Klaus Hillingmeier

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 6/2017 „Im Reich der Großmoguln“

Zuletzt geändert: 7.6.2018