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Gekommen, um zu bleiben

Hugenotten in Berlin

Der Große Kurfürst, der Hohenzoller Friedrich Wilhelm, öffnete die Tore der Stadt Berlin für Hugenotten, die aus Frankreich geflohen waren. Doch er handelte nicht nur aus humanitären Gründen.

französischer Dom Berlin

Im 17. Jahrhundert wanderten zahlreiche Hugenotten aus Frankreich in Berlin ein. Ihre Spuren sind heute im Berliner Stadtbild sichtbar, etwa im französischen Dom am Gendarmenmarkt. | © istockphoto.com/Omm-on-tour

Mit Sack und Pack kommen die französischen Glaubensflüchtlinge, die „Réfugiés“, in Berlin an. Die wenigen Habseligkeiten tragen sie auf den Schultern, Frauen halten Kinder im Arm, voller Hoffnung weist eine Frau ihrer Familie den Weg in die Stadt, immerhin einen Esel oder ein Maultier führen sie ab und zu mit sich. Dankbar kniet einer der Einwanderer vor dem Herrscher Friedrich Wilhelm, dem „Großen Kurfürsten“ nieder, der die Tore der Stadt geöffnet hat. Die Szene wurde mehrfach von Künstlern eingefangen. Sie findet sich auch an prominenter Stelle, auf einem Relief am Berliner Roten Rathaus, nur ein Stück neben dem Hauptportal. Begründet wurde die Aufnahme der Hugenotten, die 1685 mit dem Edikt von Potsdam beschlossen wurde, mit moralischen Überlegungen. In dem Edikt warf Friedrich Wilhelm Frankreich „harte Verfolgungen“ und „rigoreuse proceduren“ vor – ein kalkulierter Affront. Der Fürst erklärte, er fühle sich zur Hilfe gegenüber den Hugenotten verpflichtet „aus gerechtem Mitleiden, welches wir mit Unsern, wegen des heiligen Evangelii und dessen einer Lehre angefochtenen und bedrengten Glaubens-Genossen billig haben müssen“.

Den Hohenzollern brachten die Einwanderer Geld

Tatsächlich waren die Aufnahmeländer der Hugenotten in ganz Europa nicht nur aus humanitären Gründen an Einwanderung interessiert. Nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges versuchten die Herrscher, ihre Ländereien wieder zu bevölkern. Die Idee dahinter: Je mehr Menschen in einem Land lebten, desto mehr konnten sie produzieren und desto stärker konnten Produktion und Konsum besteuert werden. Gesunde Staatsfinanzen legten ihrerseits die Grundlage für eine schlagkräftige Armee, die Stütze des Herrscherhauses. Neben die humanitären Überlegungen traten also wirtschaftliche Ziele, die dazu führten, dass sich Brandenburg-Preußen intensiv um die hugenottischen Einwanderer bemühte. Das Land stellte den potenziellen Neubürgern nicht nur die öffentliche Religionsausübung nach französisch-reformiertem Ritus frei, sondern versprach ihnen auch Steuererleichterungen, sagte ihnen Baumaterial zu und stellte eine leichte Aufnahme in die Zünfte in Aussicht.

Als jeder fünfte Berliner ein Franzose war

Friedrich Wilhelm agierte damit durchaus erfolgreich. Zwischen 16 000 und 20 000 Refugiés kamen nach Brandenburg-Preußen, von denen einige zwar aufs Land zogen, ein großer Teil aber nach Berlin ging, das schnell zum wichtigsten Siedlungsort wurde. Um das Jahr 1700 waren laut dem Historiker Werner Gahrig rund ein Fünftel der Einwohner Berlins aus Frankreich Zugewanderte, 5400 Berliner waren demzufolge Hugenotten. Obwohl viele Spuren dieser Einwanderungswelle im Zweiten Weltkrieg vernichtet wurden, lässt sie sich besonders am Gendarmenmarkt noch gut nachvollziehen. Auf der Südseite ragt die Kuppel des Deutschen Doms in den Himmel, an der Nordseite ist der Turm des Französischen Doms zu sehen. Allerdings ist nicht der Dom selbst das Gotteshaus, sondern die kleinere und unscheinbare Französische Friedrichsstadtkirche auf dessen linker Seite. Bis heute wird in dem ovalen, in hellem Beige und dezentem Grün gestalteten Bau ein französisch-reformierter Gottesdienst gefeiert, teils sogar in französischer Sprache. Im Dom befindet sich auch das Hugenottenmuseum, das über die Geschichte der Hugenotten in Frankreich und ihre Auswanderung nach Berlin informiert.

Überall in Berlin wurden Maulbeerbäume gepflanzt

An der Kirche erinnern eine Statue des Reformators Johannes Calvin und eine Gedenk- tafel nicht nur an das Potsdamer Edikt von 1685, sondern auch an die wirtschaftlichen Erfolge der Hugenotten. Die Tafel zitiert Friedrich den Großen: „20 000 der Ärmeren, aber Betriebsamsten flüchteten sich ins Brandenburgische […]. In Berlin siedelten sich Goldschmiede, Juweliere und Bildhauer an.“ Zunächst allerdings lag die Hoffnung der brandenburgisch-preußischen Obrigkeit weniger in der Ansiedlung von Uhrmachern und Goldschmieden und mehr im Zuzug von Manufakturisten und in der Seidenproduktion. Die Hugenotten sollten die zuvor teuer importierte Seide selbst herstellen. Überall in der Stadt entstanden Maulbeerbaumplantagen, mit denen Seidenraupen gezüchtet werden sollten. Bäume wurden selbst vor karitativen Einrichtungen und auf Friedhöfen gepflanzt. So etwa in der Friedrichstraße 129, rund eineinhalb Kilometer nördlich des Gendarmen- marktes. Hier befand sich ein frühes Zentrum der französisch-reformierten Gemeinde, bereits 1686 eröffnete das erste Hospital, auch der erste Friedhof wurde eingerichtet. Von den Gebäuden ist nicht mehr viel übrig geblieben. Immerhin: Ein Pelikan als Symbol der Opferbereitschaft und der Liebe steht als Denkmal vor dem Toreingang – und ein letzter Maulbeerbaum erinnert an die Plantagen, die Hugenotten auch hier angelegt hatten. Nur wenige hundert Meter nördlich kann der älteste noch bestehende Friedhof der französisch-reformierten Gemeinde in der Chausseestraße besichtigt werden – auch er war einst dicht bepflanzt mit 220 Maulbeerbäumen und einer Maulbeerbaumhecke.

Die Hugenotten brachten unbekannte Berufe nach Berlin

Der Friedhof und die Gräber geben ganz nebenbei Auskunft darüber, wie sich die Hugenotten ins Berliner Leben integrieren konnten: oft nicht schlecht, teilweise gelangten sie bis in höchste gesellschaftliche und wirtschaftliche Positionen. Beerdigt ist hier etwa Jean Pierre Frédéric Ancillon, den Friedrich Wilhelm III. im Jahr 1832 zum Außenminister ernannte und dessen Grab ein großer Sarkophag im antiken Stil schmückt. Das wohl spektakulärste Grab ist jenes der Familie Ravené, in Form einer überdachten Säulenhalle, an deren Eingang zwei Engel knien. Begraben ist hier Peter Louis Ravené, der aus der Eisenwarenhandlung seines Vaters ein Industrieunternehmen schuf, das vor allem im Eisenbahnbau erfolgreich war. Der Erfolg hatte oft ein anderes Gesicht als geplant. Weder die Seidenraupenzucht noch der Aufbau von Manufakturen verliefen für die Einwanderer besonders glücklich. Zu schlecht waren das Klima und die Böden. Für Manufakturen fehlte es oft an Kapital, Absatzmärkten und weiterverarbeitenden Betrieben. Erfolgreich waren dagegen vor allem die Handwerker. Für das Jahr 1700 berichtet Werner Gahrig von immerhin 45 eingewanderten Schuhmachern, 41 Schneidern, 36 Perücken- machern und 26 Bäckern, die in Berlin ihrem Beruf nachgingen. Auch einige zuvor unbekannten Berufe wie Parfumeure waren durch die Einwanderung erstmals in Berlin vertreten.

Die Integration der Hugenotten brauchte Zeit

Der starke Zuzug sorgte allerdings auch für Konflikte. Weil manche der Zugezogenen ihre Webstühle in den Wohnungen aufbauten, beklagten sich einige Berliner über zu viel Schmutz. Zudem war das Vorurteil verbreitet, die Franzosen gingen leichtsinnig mit Feuer um. Dokumentiert sind auch Streitereien zwischen alteingesessenen Handwerkern und Neuankömmlingen. Da in Berlin Zunftzwang herrschte, mussten hugenottische Handwerker den Zünften beitreten. Als Teil ihrer Privilegien wurde ihnen allerdings die Aufnahmegebühr erlassen, zudem mussten sie, anders als die deutschen Kollegen, kein Meisterstück vorweisen. Und dennoch: Während die ältere Forschung die Bedeutung solcher Konflikte betont, meint der Historiker Ulrich Niggemann, die Zahl der Konflikte sei insgesamt vergleichsweise gering gewesen. Andererseits, so argumentiert er, sei die Integration und Akkulturation der Hugenotten ein längerer Prozess gewesen, als häufig angenommen wird.

Auch Theodor Fontane war Hugenotte

Tatsächlich finden sich auf den Grabsteinen bis weit ins 19. Jahrhundert hinein französische Inschriften. Und auf dem zweiten großen Friedhof der französisch-reformierten Gemeinde in der Liesenstraße, zwischen den Stadtteilen Wedding und Mitte, erinnert ein Obelisk an die Gefallenen der Gemeinde im Krieg von 1870/1871, den Preußen und die deutschen Staaten gegen Frankreich führten. „Sois fidèle“ (sei treu), heißt es dort, und: „A ses membres morts pour le Roi et la Patrie“ (an die für König und Vaterland gefallenen Gemeindemitglieder), die weiterhin George und Louis aber mittlerweile auch Hermann oder Max hießen. Die Vermischung der Kulturen macht auf dem Friedhof auch das Grab von Theodor Fontane sichtbar. Der Schriftsteller stammte zwar aus einer hugenottischen Familie, sein Werk wird aber meist ganz selbstverständlich zum deutschen Kulturerbe gezählt.

Die Hugenotten sind heute noch im Stadtbild präsent

Abgesehen vom französisch-reformierten Gottesdienst am Gendarmenmarkt und dem Französischen Gymnasium, das seine Wurzeln sowohl in den Bildungseinrichtungen der Hugenotten wie in der Präsenz französischer Besatzungssoldaten nach dem Zweiten Weltkrieg hat, ist eine ausgeprägte kulturelle Identität der Hugenotten heute kaum noch erkennbar. Und dennoch zeigt ihre Präsenz im Stadtbild, in den Namen der Berliner und sprachlichen Besonderheiten wie der „Boulette“, wie Einwanderung die Stadt in der Vergangenheit mitgeformt hat. Schließlich ist das Erbe der Hugenotten eine Aufforderung an die moderne Großstadt, ihre Tore nicht allzu leichtfertig vor den „Refugees“ von heute zu verschließen. In der Toreinfahrt zu den ehemaligen karitativen Einrichtungen der Hugenotten in der Friedrichstraße betonen Graffitis diesen Aspekt: „Asyl zeigt den Glauben an Barmherzigkeit“, steht dort, sowie: „Die Toleranz baut die Tempel wieder auf, die der Fanatismus zerstörte.“ Die Rheinische Post kommentierte dieses Phänomen 2015 so: „Zum moralischen Habitus der evangelischen Republik gehört auch ein Hang zu Besserwisserei und Empörung.“ Das passe doch sehr gut zu den Deutschen.

Tobias Sauer

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 6/2015 „Die Hugenotten“

Zuletzt geändert: 16.11.2017