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Stoff für Legenden

Kennedy und die Deutschen

John F. Kennedy ist bei den Deutschen beliebter als im eigenen Land. Was nur wenige wissen: Nach dem Kriegsende 1945 besuchte er den Obersalzberg. Seine Aussagen über Hitler wirken gespenstisch.

John F. Kennedy und seine Frau kurz vor seiner Ermordung in Dallas, Texas, am 22. November 1963. | © Library of Congress USA

Der hessische Ministerpräsident gibt am 25. Juni 1963 in Wiesbaden einen Empfang für den Präsidenten der Vereinigten Staaten. John F. Kennedy hat drei Tage als Staatsgast in Deutschland hinter sich. Drei Tage, in denen ihm zehntausende Deutsche zujubelten: „Ken-ne-dy! Ken-ne-dy!“ Diese Tage seien „die herzlichsten“, seit er im öffentlichen Dienst stehe, sagt Kennedy. Und setzt noch einen drauf: Wenn seine Amtszeit einmal ende, wolle er einen Umschlag in seinem Schreibtisch deponieren, nur „in traurigen Momenten“ zu öffnen. Darin fände sein Nachfolger die Notiz: „Fahre nach Deutschland.“ Am nächsten Tag fliegt JFK nach Berlin. Was auf deutscher Seite damals niemand weiß: Der Berlin-Aufenthalt am 26. Juni war sein bereits vierter. Zuletzt ist John F. Kennedy 1948 hier gewesen, als Kongress-abgeordneter. Bei einem Toast auf den Regierenden Bürgermeister Willy Brandt sagt er allerdings: „Das letzte Mal kam ich im Juli 1945 nach Berlin, und ich sah eine Stadt in Ruinen.“

Kennedy war berauscht von der deutschen Landschaft

Kennedy und die Deutschen, diese Geschichte beginnt im Sommer 1937. Der 20-jährige Millionärssohn John F. tourt als Student mit seinem Freund Lem Billings im Ford Cabrio zwei Monate lang durch Europa: Frankreich, Italien, Österreich, Deutschland (17. bis 22. August), Niederlande, Belgien, England sind die Stationen. „Jack“, wie John genannt wird, führt darüber Tagebuch. Sie nehmen Anhalter mit, besuchen Museen und Sehenswürdigkeiten. Dabei scheinen sich Jack und Lem nicht immer gut zu benehmen: „Unter dem üblichen Gefluche und dem Hinweis, dass wir keine Gentlemen seien, verließen wir das Hotel“, notiert Kennedy bei der Abfahrt aus München. Und einen Tag später in Nürnberg: „Aufbruch wie üblich, mit der Ausnahme, dass wir diesmal das zusätzliche Vergnügen hatten, bespuckt zu werden.“

Der 20-Jährige versucht, sich eine Meinung über die politischen Verhältnisse zu bilden. Dazu liest er das aktuelle Buch „Inside Europe“ des US-Korrespondenten John Gunther und notiert in Mailand: „Habe Gunther ausgelesen und komme zu dem Schluss, dass Faschismus das Richtige für Deutschland und Italien ist, Kommunismus für Russland und Demokratie für Amerika und England.“ Nach der Fahrt den Rhein entlang ist der junge Amerikaner berauscht von der Landschaft mit ihren vielen Burgen: „Die Städte sind alle sehr reizend, was zeigt, dass die nordischen Rassen den romanischen gewiss überlegen zu sein scheinen.“ Daraus zieht er, auf Europa bezogen, einen gewagten Schluss: „Die Deutschen sind wirklich zu gut – deshalb rottet man sich gegen sie zusammen, um sich zu schützen […]“.

1945 war John F. Kennedy als Journalist in Potsdam

Von Februar bis September 1939 hält sich John F. Kennedy erneut in Europa auf. Sein Vater Joseph „Joe“ Kennedy ist seit 1938 Botschafter in London. In seinem Auftrag reist John kreuz und quer durch den Kontinent, nach Moskau und in den Nahen Osten. In Deutschland besucht er unter anderem München und Berlin. Auch das besetzte Prag besichtigt er. Danzig, schreibt er in einem privaten Brief, werden die Polen „niemals aufgeben“. Es sei aber „vollständig nazifiziert – jede Menge Heil Hitler usw.“ Sollte Deutschland „sich zum Krieg entschließen, wird es versuchen, Polen in die Rolle des Aggressors zu drängen“.

Im Juli 1945 führt ein journalistischer Auftrag Kennedy unter anderem zur Potsdamer Dreimächtekonferenz. Auf US-Seite verhandelt Präsident Harry S. Truman. Kennedy trifft auch auf den Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte, General Dwight D. Eisenhower, Trumans Nachfolger – und JFKs Vorgänger. Über Berlin schreibt er: „Alles ist zerstört. In manchen Straßen ist der Gestank der Leichen überwältigend. Die Menschen haben vollkommen farblose Gesichter. Sie schlafen in Kellern. Die Frauen würden für Essen alles tun. Die meisten scheinen sich so unscheinbar wie möglich machen zu wollen, um der Aufmerksamkeit der Russen zu entgehen.“

Was wusste Kennedy über die KZs?

Aus Kennedys Tagebuch vor dem Krieg geht mit keinem Wort hervor, wie er zur systematischen Diskriminierung der Juden stand. Und die Notizen vom Juli 1945 lassen viele Fragen offen, was er darüber wusste oder wissen wollte. Zum Beispiel, als er wiedergibt, was ihm eine junge Frau erzählte: „Die Menschen hätten nicht begriffen, was in den Konzentrationslagern vor sich ging. In vielerlei Hinsicht war die SS genauso schlimm wie die Russen.“ Hatte er selbst begriffen, was in den KZs vor sich ging? Vollends gespenstisch wird es, als Kennedy seine Eindrücke von Hitlers „Adlerhorst“ und vom „Berghof“ am Obersalzberg schildert: „Wer diese beiden Orte besucht hat, kann sich ohne Weiteres vorstellen, wie Hitler aus dem Hass, der ihn jetzt umgibt, in einigen Jahren als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten hervortreten wird, die je gelebt haben […]. Er war aus dem Stoff, aus dem Legenden sind.“

Stoff für Legenden: So sah Joseph P. Kennedy, der notorisch antisemitische Vater, vor allem seine eigenen Söhne. Der Erstgeborene Joe junior war noch nicht einmal im College, als er Freunden erklärte: „Ich werde der erste katholische Präsident der Vereinigten Staaten.“ Doch Joe starb 1944 im Kriegseinsatz. Da wusste John, was zu tun war: „Wenn Joe gelebt hätte“, sagte er 1957, „wäre ich weiter Schriftsteller geblieben […]. Sollte ich sterben, würde mein Bruder Bob Senator werden wollen.“ Stieße ihm etwas zu, würde Bruder Teddy „an unserer Stelle kandidieren“. Und so kam es. Joe senior schärfte seinen Söhnen ein: „Wir wollen keine Verlierer in der Familie.“

Kennedys Vater will keine „Verlierer“ in der Familie

Speziell für den seit seiner Kindheit kranken Jack hatte er den Rat: „Es kommt nicht darauf an, was du bist, sondern wofür dich die Leute halten.“ So erfährt die Öffentlichkeit nichts von der Addison-Krankheit, die JFK zeitlebens quält und in den 1950er-Jahren zweimal fast aufs Sterbebett zwingt. Nichts von dem Medikamentencocktail, den er täglich zu sich nimmt. Nichts von den ständigen Affären mit Prostituierten, Praktikantinnen, Schauspielerinnen und anderen Frauen.

Stattdessen wird lange vor dem Attentat von Dallas ein Mythos erschaffen: der des sportlichen, dynamischen und fortschrittlichen Kennedy, des fürsorglichen Familienvaters und Ehemanns, moralisch überlegener Führer der freien Welt, der seine Landsleute dazu aufruft, sich zu „neuen Grenzen“ aufzumachen, mindestens aber bis zum Mond. Dass er heimlich Fidel Castros Ermordung betreibt und in Saigon einen Putsch in Szene setzen lässt, der mit der Liquidierung des südvietnamesischen Präsidenten endet, was die USA dort immer tiefer in den Krieg hineinzieht, ist den Zeitgenossen nicht bekannt.

In den USA wird Kennedy weniger verklärt als hier

In den Staaten fällt der Blick auf Kennedys Tausend Tage im Weißen Haus aber heute weniger verklärt aus als in Deutschland. Deutschlands Bild von Kennedy ist von der Berliner Rede geprägt. Am 26. Juni 1963 kehrt er als derjenige in die Frontstadt des Kalten Krieges zurück, der den Russen im Herbst 1962 während der Kubakrise die Stirn geboten und den Dritten Weltkrieg verhindert hat. Dass dieUSA den Bau der Mauer weder verhindert noch darauf reagiert hatten – vergeben und vergessen. Kennedy wird auf seiner Rundfahrt durch die Stadt wie ein Heilsbringer gefeiert. Er ist überwältigt und ändert spontan die geplante Rede, ehe er auf die Tribüne am Schöneberger Rathaus steigt. Nicht austarierte Diplomatie erklingt, sondern klare Worte: „Die Mauer ist die abscheulichste und die stärkste Demonstration des Versagens des kommunistischen Systems.“ Gleich zu Beginn spricht er die Gefühle der Berliner an: „Vor 2000 Jahren war der stolzeste Satz, den ein Mensch sagen konnte: ‚Ich bin ein Bürger Roms‘.“ Heute, fährt er nach einem Blick auf den Spickzettel mit deutscher Lautschrift fort, sei der stolzeste Satz, „den jemand in der freien Welt sagen kann: ‚Ish bin ein Bearliener'“ . All jenen, die meinten, dem Kommunismus gehöre die Zukunft, rufe er zu: „Lasst sie nach Berlin kommen!“ Auf dem Spickzettel steht: „Lust z nach Bearlin comen.“ Fünf Monate später ist der Präsident tot, die Hintergründe umstritten. Der Mythos JFK lebt weiter, vor allem in Deutschland.

Ulrich Graser 

© Vorschaubild: Library of Congress USA

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 5/2017 „Helden gegen Hitler. Widerstand im Zweiten Weltkrieg“

Zuletzt geändert: 14.12.2017