Ein Gewirr von Türmen, Giebeln, Bögen und Blumen, aber mit System: Der Kölner Dom ist nicht nur das Wahrzeichen seiner Stadt, sondern auch ein Musterbeispiel für gotische Architektur.
Der Kölner Dom wuchs empor inmitten von Seuchen, Krieg und Armut. Die meisten Menschen wohnten in verräucherten Katen mit Boden aus gestampftem Lehm und winzigen Fenstern, die gegen die Kälte mit Holzplatten verschlossen werden mussten – Glas war zu kostbar. Die Fenster des Doms dagegen haben eine Fläche von 10 000 Quadratmetern – damit könnte man ein 30-stöckiges Hochhaus verglasen.
Nun gibt es schon lange noch viel größere Gebäude als den Dom, aber bis heute kein zweites, das in dieser Weise durchgeformt ist: einerseits völlig systematisch aufgebaut, doch andererseits übersät mit einem Gewirr von Türmen, Giebeln, Bögen und Blumen – sogar auf dem Dach, das man nur sehen kann, wenn man aus dem Himmel auf den Kölner Dom herabschaut.
Das Ziel: Den größten Dom der Welt bauen
Köln hatte schon seit dem 9. Jahrhundert einen Dom. Dieser Vorläufer war auch schon 90 Meter lang. Dennoch entschieden sich die Kölner im 13. Jahrhundert dafür, das bestehende Gotteshaus nach und nach abzureißen und durch ein neues zu ersetzen: den größten Dom der Welt.
Der ausschlaggebende Grund dafür waren drei Reliquien – die angeblichen Gebeine der Heiligen Drei Könige. Erzbischof Rainald von Dassel hatte sie 1164 als Kriegsbeute von Mailand nach Köln gebracht. Dank dieser Reliquien stieg „Sancta Colonia“ zum bedeutendsten Wallfahrtsort nach Rom und Santiago de Compostela auf.
Die neue Kirche sollte ein Gotteshaus aus Glas sein
Um die Bedeutung der Gebeine noch stärker herauszustellen, musste ein Dom her, der über alles Irdische hinausragen sollte. Vor allem aber sollte dieses Gotteshaus in einem ganz anderen Stil gebaut sein als das alte. Bisher waren die Kölner an Kirchen gewöhnt, die wie Trutzburgen des Glaubens wirkten, mit meterdicken Wänden, gedrungenen Türmen und kleinen Fenstern, die nur Dämmerlicht hereinließen.
Die neue Kirche dagegen sollte nicht aus Stein sein, sondern aus Glas! Um das zu begreifen, sollte man den Kölner Dom heute unbedingt an einem sonnigen Tag besuchen. Dann erkennt man sofort: Die Wände bestehen fast nur aus Fenstern. Bunte Lichtflecken auf den Bodenplatten, Bänken und Säulen. Alles schimmert in Rubinrot, Saphirblau, Smaragdgrün. Die gotischen Baumeister waren davon überzeugt, dass die Besucher des Doms durch dieses Licht einen Schimmer von Gott erhaschen konnten. Ebenso wie Gott war auch Licht Voraussetzung für alles Leben und gleichzeitig nicht fassbar.
Genialer Trick aus Frankreich: Säulen statt tragende Wände
Wie aber baute man ein Glashaus dieser Größe? Dafür hatten die ersten Kathedralenbauer in Frankreich eine geniale Technik entwickelt. Die überwiegend aus Fenstern bestehenden Wände haben keine tragende Funktion. Stattdessen wird das Gewölbe von Säulen getragen: schlanken Innen- und mächtigen Außenpfeilern.
Diese Außenpfeiler – Strebewerk genannt – stützen den Dom an den Seiten wie Krücken. Auf sie werden die Kräfte der Gewölbedecke abgeleitet. Dank dieses Tricks konnte man auf massive Wände verzichten. Die Entscheidung, den karolingischen Dom durch einen Neubau zu ersetzen, wurde 1246 oder 1247 vom Domkapitel getroffen, denn es war dieses Gremium, das die Finanzen des Erzbistums verwaltete.
Über den Architekten des Kölner Doms weiß man kaum etwas
Finanziert wurde der Bau über Spenden. Die Geldgeber kamen aus allen Schichten der Bevölkerung: vom Handwerker bis zum König von England, der beste Beziehungen zum Kölner Erzbischof unterhielt. Zudem spielten Kölner Kaufleute eine unverzichtbare Rolle im englischen Handel mit Kontinentaleuropa. Sie besaßen in der Londoner City einen eigenen Stützpunkt, die „Guildhall“, lange Zeit das größte und prächtigste kommerzielle Gebäude der Stadt.
Nun brauchte man nur noch den richtigen Architekten. Die Wahl des Domkapitels fiel auf Meister Gerhard. Dieser Gerhard, von dem man eigentlich nicht mehr weiß als seinen Namen, und auch das nur, weil er in Köln ein Haus gekauft hat, muss ein Genie gewesen sein. Als Vorbild für den Kölner Dom wählte Meister Gerhard die 1220 begonnene Kathedrale von Amiens in Nordfrankreich. Daraus entwickelte er jedoch einen höchst eigenständigen Entwurf.
Gebaut für Erdbeben: Gotische Baumeister inspirierten Japan
Wie ausgearbeitet dieser Plan vor Baubeginn war, lässt sich nicht sagen. Vermutlich war der Dom anfangs nur ein Gedankengebäude. Am 15. August 1248 legte Erzbischof Konrad von Hochstaden im Beisein einer großen Zuschauermenge den Grundstein. Anschließend waren die Arbeiter erst einmal neun Jahre damit beschäftigt, die Fundamente für den Chor – den hinteren Teil der Kathedrale – zu legen. Gerhard wählte dafür einen der härtesten Steine: Basalt. Zwischen die Basaltblöcke fügte er jedoch einen sehr weichen Stein ein: Tuffstein. Denn schon damals war bekannt, dass der Rheingraben ein Erdbebengebiet war. Der elastische Tuffstein gab bei Druck nach. Japanische Architekten haben sich diese Technik später bei den gotischen Baumeistern abgeguckt – für die Wolkenkratzer von Tokio.
Das Erste, was danach in die Höhe wuchs, war der Chor, das spirituelle Herz des Gotteshauses mit dem Hochaltar. Heute würde man Computerprogramme einsetzen, Meister Gerhard dagegen hatte nur Erfahrungswerte. Seine Software war das 13-Knoten-Seil, mit dem er geometrische Formen wie Kreise und Dreiecke konstruieren konnte. Dazu kamen Wasserwaage, Messstab, Zirkel und Senkblei, mit denen er kontrollieren konnte, ob der Winkel wirklich 90 Grad maß und die Mauer senkrecht stand.
Besonders hart schufteten die Steinbrecher
Es grenzt schon an ein Wunder, dass die Dombaumeister mit solch einfachen Hilfsmitteln derart kolossale Gebäude zustande brachten. Selbst Abweichungen im Millimeterbereich sind ein Problem, weil sie sich in der Höhe potenzieren. Auf der Kölner Dombaustelle arbeiteten viele verschiedene Fachleute, die alle ihre eigene Bauhütte hatten: Steinmetze, Mörtelmischer, Maurer, Zimmerleute, Schmiede … Unterstützt wurden sie von Hunderten Hilfsarbeitern.
Besonders mühselig war die Arbeit der Steinbrecher – sie zogen sich in den unterirdischen Gängen der Steinbrüche oft eine Staublunge zu. Das Material für den Dom – Trachyt, ein hellgrauer Vulkanstein – kam vom Drachenfels im Siebengebirge. Auf einer hölzernen Rutsche glitten die bis zu einer Tonne schweren Quader ans Ufer. Dort wurde jeder Stein kontrolliert und schon mit einem Hinweis dafür versehen, wie er verbaut werden sollte. Segelschiffe transportierten die Blöcke 50 Kilometer rheinabwärts nach Köln.
Kirchenfenster ersetzten das Lesen der Bibel
Die Baustelle war nun auch zu einem Maschinenpark geworden. Das beeindruckendste Hilfsmittel war ohne Zweifel der Tretkran. Er bestand aus einem mannshohen hölzernen Laufrad, in dem Menschen – sogenannte Windeknechte – wie Hamster auf der Stelle traten. Dadurch wickelten sie ein Seil um eine Achse und zogen so einen am anderen Ende befestigten Quader nach oben. Gerhard gab ein enormes Tempo vor. Zwölf Jahre nach der Grundsteinlegung stand bereits der Kranz der sieben Kapellen, die den Chorraum einschlossen.
Auch die Fertigstellung des ersten und wichtigsten Buntglasfensters um 1260 dürfte der Meister noch erlebt haben. Dieses unversehrt erhaltene, 17 Meter hohe Fenster befindet sich genau in der Achse des Chors. Es wird das Bibelfenster genannt, weil es in zwei senkrechten Bilderreihen die wichtigsten Ereignisse der Bibel wiedergibt. Die meisten Menschen der damaligen Zeit konnten nicht lesen, aber sie dürften einen Blick für solche Bilder gehabt haben. Vielleicht hat Gerhard das Fenster selbst mitgestaltet. Die Glasmaler, die es angefertigt haben, waren großartige Künstler. Jahrhunderte vor den Ölmalern erforschten sie schon die Gesetze der Optik, um die Wirkung ihrer Werke zu vervollkommnen. Sie wussten zum Beispiel, dass einfallendes Licht dunkle Linien scheinbar heller beleuchtet und sie dadurch feiner wirken lässt. Deshalb malten sie schwarze Striche extra dick.
Die Leistung des Baumeisters rief Neid und Misstrauen hervor
Ungefähr zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Fensters muss Meister Gerhard gestorben sein. Sein Tod hat düstere Legenden inspiriert. Er habe eine Wette oder einen Pakt mit dem Teufel abgeschlossen, hieß es. Am Ende stürzt ihn der Höllenfürst vom Baugerüst in die Tiefe. Die Geschichten spiegeln das Misstrauen der Zeitgenossen angesichts seiner gewaltigen Leistung wider, die sich viele nur mit dem Einwirken übernatürlicher Mächte erklären konnten. Auch war Gerhard als Leiter der Bauhütte ein Großverdiener, was Neider auf den Plan rief. Gerhard dürfte seinen Entwurf in Gesprächen und Zeichnungen, vielleicht auch durch Holzmodelle an seine engsten Mitarbeiter weitergegeben haben.
Sein Nachfolger, Meister Arnold, war vermutlich derjenige, der um 1280 den bis heute erhaltenen Fassadenriss schuf, eine mehr als vier Meter große Tuschezeichnung der Hauptfassade mit den beiden Türmen. 1277 weihte der hochbetagte Kirchenlehrer und Naturwissenschaftler Albertus Magnus den Altar der Sakristei. Dass der Erzbischof 1288 in der Schlacht von Worringen entmachtet wurde, änderte für die Fabrica, die Fabrik zum Bau des Doms, im Grunde nichts: Bauherr war ja nicht der Bischof, sondern das Domkapitel.
Der Bau zog sich so lange hin, dass der Architekturstil veraltete
Mittlerweile bewegten sich die Gewölbebauer in einer Höhe von 44 Metern, um das Gewölbe – das Dach – zu konstruieren. Sein tragender Baukörper waren die sogenannten Rippen: große Bögen, die sich von einer Wand der Kathedrale zur anderen spannten und dabei überkreuzten. Um einer allmählichen Schädigung des Gesteins durch Regenwasser vorzubeugen, wurde der Dom mit einem über mehrere Stockwerke reichenden System von Rohren und Rinnen ausgestattet, das täglich mehrere zehntausend Liter in die Wasserspeier ableiten kann. Es funktioniert noch heute: Wenn es regnet, ergießen sich ganze Sturzbäche aus den Mäulern von Monstern, Rittern und Dämonen.
Am 27. September 1322, 74 Jahre nach der Grundsteinlegung, weihte Erzbischof Heinrich von Virneburg den Chor. Er war 43,35 Meter hoch – zum Vergleich: Das Brandenburger Tor bringt es auf 26 Meter. Ein mächtiger Raum, letztlich aber nur der hinterste Teil der Kathedrale. Mittlerweile war deutlich: Die Sache zog sich. Und zwar solange, dass der Baustil des Doms irgendwann gar nicht mehr modern war. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts lehnten sich neue Gebäude zunehmend an Vorbilder aus der Antike an. Dazu kam, dass das Finanzierungssystem des Doms – der Ablasshandel – in Verruf geriet. Schließlich war der letzte Groschen vermauert, um 1530 wurde die Arbeit eingestellt. Einer gestrandeten Galeone gleich, lag der Dom nun am Rheinufer. Ein trauriger Anblick.
Endlich fertig: Die Hohenzollern vereinnahmen den Dom
Dass der Dom am Ende doch noch fertig wurde, hängt mit dem erwachenden Nationalbewusstsein der Deutschen zusammen. So erklärte der Publizist Joseph Görres die Kathedrale nach den Befreiungskriegen gegen Napoleon kurzerhand zum „Symbol des neuen Reiches, das wir bauen wollen“. 1842 legte der preußische König Friedrich Wilhelm IV. feierlich den Grundstein für die zweite Bauphase. Die Vollendung des Doms wurde 1880 nicht als Triumph der Architekten, Kölns oder der katholischen Kirche zelebriert, sondern als pompöse Selbstdarstellung des protestantischen Hohenzollernhauses.
Christoph Driessen
Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 1/2015 „Stadtleben im Mittelalter“
Zuletzt geändert: 14.06.2017