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Die Wahrheit hinter Lederstrumpf

Krieg gegen die Indianer

Für die indianische Bevölkerung der USA ist der 4. Juli eher ein Tag zum Trauern als zum Feiern. Noch heute warten sie auf eine
offizielle Entschuldigung für das, was die Kolonisten ihnen antaten.

Schoschonen zwischen 1880 und 1910. | © Library of Congress

Das Image der Indianer wurde durch nichts anderes so sehr geprägt wie durch James Fenimore Coopers Roman „Der letzte Mohikaner“ von 1826. Den darin beschriebenen Gründungsmythos der USA könnte man, wie Historikerin Roxanne Dunbar-Ortiz schreibt, bestenfalls als kurios abtun, wäre da nicht seine „tödliche Langlebigkeit“.

Auf den Punkt gebracht hat ihn Frederick Jackson Turner 1893 in seiner Frontier-These: Die Auseinandersetzung der Europäer mit den Ureinwohnern habe einen speziell amerikanischen, einzigartigen Typ Mensch hervorgebracht, der auf sich allein gestellt in der rauen Natur überleben kann, Gewalt als legitimes Mittel zur Konfliktlösung ansieht und dafür nicht auf staatliche Einmischung wartet. Die Kolonisten, die als Puritaner angefangen hatten und die Bibel wörtlich nehmen wollten, stellten bald nach ihrer Ankunft fest, dass das in ihrer neuen Heimat nicht funktionierte. Die zentrale Botschaft von Coopers Lederstrumpf-Serie lautet: Wer sich an das Gebot hält „Du sollst nicht töten“, oder an die Empfehlung der Bergpredigt, die andere Wange hinzuhalten, kann nicht damit rechnen, alt zu werden: Wer auch immer entlang der Siedlungsgrenze (Frontier) das Land erbte, es waren nicht die Sanftmütigen.

Wurzeln der Gewaltkultur

Die christlichen Siedler fanden sich so in dem Dilemma wieder, dass sie ihre Religion und Zivilisation nur mit roher Gewalt verbreiten konnten. Dadurch verloren sie aber den Anspruch, „besser“ zu sein als die „unzivilisierten“ Indianer. Bestes Beispiel dafür ist die Praxis des Skalpierens, für viele Inbegriff der „barbarischen“ Grausamkeit der Indianer, in Wirklichkeit jedoch gefördert von der englischen Regierung, die Belohnungen für Skalps der Ureinwohner aussetzte. Bezeichnenderweise trägt Coopers Indianer Chingachgook ein in England gefertigtes Skalpmesser.

„Der Letzte Mohikaner“ spielt während des Siebenjährigen Krieges, mit einigen dichterischen Freiheiten. Cooper macht die Irokesenliga, ein Bündnis von zunächst fünf, später sechs indianischen Völkern, zu Verbündeten der Franzosen, obwohl die meisten der Six Nations offiziell neutral waren. Er verwischt die Unterschiede zwischen Six Nations, Huronen, Mohawk und Mingos, die er alle zu einem Volk zusammenfasst, sowie zwischen Mohegan (den Mohikanern des Romans) und Delawaren. So kann er seinen »guten Indianer« Uncas zu einem Nachfahren des Delawaren-Häuptlings Tamanend machen (um * 1625, † 1701), eines Symbols für friedfertige Beziehungen zwischen Kolonisten und Indianern. Der historische Uncas war jedoch ein Mohegan, der auf europäischer Seite gegen die Pequot kämpfte. Die Ausrottung der Pequot im Mystic River Massaker bewirkte 1637 einen Wendepunkt in der Beziehung zwischen Kolonisten und Indianern. Nachdem Erstere ein Dorf angezündet hatten, in dem sich hauptsächlich Alte, Frauen und Kinder befanden, und sichergingen, dass niemand überlebte, unterwarfen sich einige indianische Nationen, um dem gleichen Schicksal zu entgehen.

Doch die Uncas-Figur war nicht der Hauptgrund, warum Cooper die historischen Allianzen des Siebenjährigen Krieges vertauscht. Sein eigenes Land hatten die Irokesen 1768 durch einen der ungerechten Verträge verloren, mit denen die Siedler die Ureinwohner um ihr Land brachten. Indem Cooper die Irokesenliga im Siebenjährigen Krieg als pro-französisch darstellt, obwohl sie weitgehend neutral war, konnte er seine Schuldgefühle über ihre Enteignungen beschwichtigen. Er projiziert so einen Feind des Unabhängigkeitskrieges auf den früheren Krieg und erreicht eine klare Aufteilung in Gut und Böse, in Gewinner und Verlierer der Geschichte. Denn während der Amerikanischen Revolution kämpften vier der Six Nations auf britischer Seite, nur zwei auf amerikanischer. Eine Fremdregierung im entfernten Großbritannien schien den meisten das kleinere Übel als eine im eigenen Land.

Siedler vernichten Indianervölker

In beiden Kriegen war ein Großteil der Kampfhandlungen gegen Indianer gerichtet. Welcher Seite sich die stärksten indigenen Nationen anschlossen, war kriegsentscheidend, weshalb sowohl England als auch die Kolonien versuchten, sie auf ihre Seite zu ziehen – oder sie zu vernichten, wenn das nicht gelang. Heute setzt sich in Amerika immer mehr die Bezeichnung Genozid für das „Schicksal“ der Ureinwohner durch. Historiker wie Dunbar-Ortiz entmythisieren die Geschichte des Landes und stellen sie als einen klassischen Fall von Siedler-Kolonialismus und Imperialismus dar, in dem Unternehmen und Regierungen bei der Enteignung und Ausbeutung der indigenen Bevölkerung Hand in Hand arbeiten und so Wohlstand und Macht der Eroberer sichern. Auch die Haupteinkünfte von Washingtons Regierung stammten aus dem Verkauf von konfisziertem Land. Viele Amerikaner glauben, dass ihr Land eine unberührte Wildnis war, bevölkert von vereinzelten nomadischen „Stämmen“, eine Bezeichnung, die Indianer als abwertend empfinden, weil sie in Verhandlungen auf ihren Status als eigenständige Nationen Wert legen.

Im Gebiet der heutigen USA lebten geschätzte sieben Millionen von ihnen, überwiegend von Landwirtschaft. Sie unterhielten Dörfer, Städte, Stadtstaaten, Wegenetze, politische Organisationen, Handels- und diplomatische Beziehungen. 100 Jahre nach dem ersten Kontakt mit Europäern waren es 90 Prozent weniger, hauptsächlich durch gezielte Ausrottung, wie Dokumente belegen, darunter Briefe Washingtons. Das Töten von Indianern wurde Teil der amerikanischen Identität, die verbindende Erfahrung der ersten Generationen von Siedlern, der Typ des Indianerkämpfers zum ersten Nationalhelden. Auch die Bezeichnung „Ranger“ geht auf die Bedeutung von »range« im Sinne von umherstreifen, um Indianer aufzuspüren und zu töten, zurück. Der Militärhistoriker John Grenier schreibt: „In den ersten 200 Jahren unseres militärischen Erbes verließen Amerikaner sich auf eine Kriegskunst, die gegenwärtige professionelle Soldaten angeblich verabscheuen: feindliche Dörfer und Felder dem Erdboden gleichmachen und zerstören; feindliche Frauen und Kinder töten; Siedlungen überfallen, um Gefangene zu nehmen; feindliche Nichtkombattanten einschüchtern und brutal behandeln; und feindliche Anführer ermorden“.

Ein Volk, das sich seiner Mythen nicht bewusst ist, mahnt der Historiker Richard Slotkin, wird sie weiter leben. Nach der Lektüre von „Der letzte Mohikaner“ stellte der englische Schriftsteller D. H. Lawrence fest, dass die amerikanische Seele „hart, einzelgängerisch, stoisch und ein Mörder“ sei und sich nie verändert habe. Dieses Zitat stellte der zeitgenössische Bestseller-Autor T. C. Boyle seinem jüngsten Roman „Hart auf hart“ voran. Das Idol der amoklaufenden Hauptfigur ist John Coulter, eine Ikone des Siedler-Kolonialismus, der aufgrund seiner Indianerkämpfe zu einem amerikanischen Helden wurde. Figuren wie er waren die realen Vorbilder für Coopers Lederstrumpf.

Sabine Sättler

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 11/2015 „Amerikanischer Unabhängigkeitskrieg“.

Zuletzt geändert: 17.1.2019