Lepra: Kein Geräusch wurde im Mittelalter mehr gefürchtet als der Klang der Klappern, mit denen Infizierte ihre Umwelt warnen mussten. Die Leprakranken wurden zu Ausgestoßenen der Gesellschaft. Und doch: Das Leben im Leprahaus lockte auch Gesunde.
„Vor der Tür des Reichen aber lag ein armer Mann namens Lazarus, dessen Leib voller Geschwüre war. Er hätte gern seinen Hunger mit dem gestillt, was vom Tisch des Reichen herunterfiel. Stattdessen kamen die Hunde und leckten an seinen Geschwüren. Als nun der Arme starb, wurde er von den Engeln in Abrahams Schoß getragen.“ (Lukas 16,20–22) Die Krankheit des Lazarus, die Lepra, umgibt im Mittelalter eine düstere Mystik. Anders als bei der Pest sterben die Menschen auf Raten, der Krankheitsverlauf kann sich über viele quälende Jahre hinziehen. Im fortgeschrittenen Stadium ist dann das Gesicht zu einer abstoßenden Maske entstellt, die Hände sind nur noch unbrauchbare Krallen. Doch die Lepra ist nicht so gnädig, auch das Gehirn des Opfers anzugreifen. So wird der Betroffene zum Zeugen seines eigenen grausamen Verfalls.
Kreuzzüge: Die Lepra verbreitet sich rasand
Die schreckliche Krankheit hatte ihren Ursprung im Nahen Osten und war bereits in der römischen Antike im gesamten Mittelmeerraum verbreitet. Ihr Name leitet sich vom griechischen Wort für Schuppe, lepris ab.
Im fünften Jahrhundert hatte sie dann Mitteleuropa und England erreicht, auf den Schiffen der Wikinger überquerte sie das Meer nach Skandinavien. In der Epoche der Kreuzzüge steigt die Zahl der Erkrankten rapide, infizierte Pilger und Kreuzfahrer verbreiten die Lepra, die in den engen und schmutzigen Gassen der Städte einen idealen Nährboden findet. Daher beschließt 1179 das Dritte Laterankonzil: „Die Leprakranken dürfen nicht mit den Gesunden zusammen leben.“
Und während in Rom die hohe Geistlichkeit die Leprösen endgültig aus der Welt der Lebenden verbannt, sitzt auf dem Thron von Jerusalem ein König, der selbst von der Lepra befallen ist. Dass ausgerechnet der Herrscher über die heiligen Stätten der Erlösung unter dieser schrecklichen Krankheit leidet, erschüttert die Menschen in ihrem Weltbild. Die Chronisten sprechen von einer Strafe Got-
tes – zu weltlich, zu sündig, zu ausschweifend sei das Herrscherhaus von Jerusalem.
Hildegard von Bingen: Lepra als göttliche Strafe
Auch die mittelalterliche Mystikerin Hildegard von Bingen interpretiert in ihren medizinischen Werken die Lepra als eine göttliche Strafe für unnatürlich gesteigerten Sexualtrieb. Eine andere Theorie der Epoche besagt, dass die Kranken während der Fastenzeit gezeugt wurden, obgleich in dieser Zeit der Geschlechtsverkehr untersagt ist. Die pragmatischen Bürger der Städte hingegen wissen aus eigener Beobachtung, dass die Krankheit durch Ansteckung übertragen wird. Sobald man die ersten Symptome zu erkennen glaubt, wird der Betroffene einer Lepraschau unterworfen. Damit kein Gesunder durch Fehldiagnosen stigmatisiert wird, findet die Lepraschau durch die vereidigten „Prüfmeister“ nur bei klarem Tageslicht statt. Erkennen sie die Krankheit, wird für den Betroffenen die Totenmesse gelesen –
außerhalb der Stadtmauern erwartet ihn nun die Gemeinschaft der lebenden Toten.
Seine neue Heimat ist nun das Leprosium. Die Anlagen erinnern mit ihren Kapellen, Wirtschaftsgebäuden, Wohnzellen und angeschlossenen Friedhöfen an Klöster, und auch das Leben dort trägt monastische Züge: Die Insassen werden als Brüder und Schwestern bezeichnet, ihre Tracht ist uniform und unmodisch, regelmäßiges Beten gliedert den Tagesablauf. Und die Regel des Leprosiums fordert eine zölibatäre Lebensweise. So liest man in der Ordnung des Lübecker Siechenhauses: „Sexuelle Kontakte sind den Insassen sowohl untereinander als auch zu Gesunden, selbst wenn es der Ehegatte ist, verboten.“
Leprakranke dürfen Brückengeländer nur mit Handschuhen berühren
Um die Gesunden zudem zu schützen, müssen die Leprösen mit einer Klapper auf sich aufmerksam machen, ausschließlich gegen den Wind sprechen und Brückengeländer nur mit Handschuhen berühren.
Doch auch unter den lebenden Toten des Siechenhauses herrscht alles andere als soziale Gleichheit. Je nach Besitz kann man sich in gestaffelte Pfründen einkaufen, und manche Leprakranken pflegen einen recht privilegierten Lebensstil mit eigener Aufwartefrau, die für ihn wäscht, putzt oder die Einkäufe auf dem Markt erledigt.
Aber auch diejenigen, die die Gnade einer der städtischen Pfründen erhalten, können zumindest mit einer Grundversorgung rechnen. In der Regel haben sie reichlich zum Essen und Trinken, es gibt Bier und Fleisch, und da sie als tot gelten, gibt es für sie auch keine lästigen Fastenzeiten. Diese Privilegien erklären, warum immer wieder auch Gesunde Lepra vortäuschen – zu verlockend ist für die Ärmsten der Armen die Aussicht auf geregelte Nahrung. Aber es gibt auch gesunde Menschen, die sich ganz legal in die Leprahäuser einkaufen, um bei ihren Ehepartnern zu bleiben.
Da den Leprakranken das Betteln innerhalb der Stadt nur an einigen wenigen Feiertagen und unter strengsten Auflagen gestattet ist, unterhalten viele Leprosien „Schellenknechte“, die mit einer Glocke in der Hand um mildtätige Spenden bitten. Ein riskanter Broterwerb, denn so mancher „Schellenknecht“ beendet seine berufliche Karriere selbst als Insasse des Siechenhauses.
Leprakranke Ritter: Der Lazarusorden
Nicht alle Leprakranken sind bereit, jahrelang auf den erlösenden Tod zu warten. In den Kreuzfahrerstaaten kämpfen erkrankte Ritter unter dem Banner des Lazarusordens gegen die Feinde der Christenheit. Diese gefürchteten Kämpfer können nur gewinnen: den Sieg oder ein gnädiges Ende durch ein schnelles Schwert. Noch in den Schlachten des Hundertjährigen Kriegs verbreiten diese Todgeweihten an der Seite der Jungfrau von Orleans unter den Engländern Panik.
Mit Ende des Mittelalters löst die Lepra ihren tödlichen Griff, die Krankheit zieht sich aus Mitteleuropa zurück. Immer mehr Leprosien können nun aufgelöst werden, bis im 18. Jahrhundert die
Lepraklappern endgültig und für immer verstummen.
Klaus Hillingmeier
Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 11/2010: „Der schwarze Tod“
Zuletzt geändert: 09.12.2015