Der römische Hauptmann Longinus soll mit einer Lanze die Seite Jesu durchstochen haben. Die „Heilige Lanze“ wurde zur begehrtesten Reliquie der Christenheit – und zu einem Machtfaktor.
Die Lanze, heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg ausgestellt, hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Doch ein Wesenszug ist allen Besitzern der Lanze gleich gewesen: Sie nutzten sie als Instrument zur Sicherung ihrer Macht und ihres Herrschaftsanspruches. So war sie zwischenzeitlich das wichtigste Stück der Reichsinsignien, ehe sie ihre Bedeutung an die Reichskrone verliert.
Alles beginnt im Jahr 926. Auf dem Hoftag zu Worms kauft der König des Ostfrankenreiches, Heinrich I., die Lanze vom burgundischen König Rudolf II. Schon kurz darauf bildete sich eine erste Legende um die Lanze, wonach Heinrich seinen Sieg über die Ungarn im Jahr 933 eben dieser Reliquie verdankt haben soll. 955 führte sein Sohn Otto I. die Lanze wohl bei der Schlacht auf dem Lechfeld mit sich, in der er die Ungarn endgültig besiegte und seinen Anspruch auf die alleinige Königsherrschaft gegenüber seinen Brüdern legitimierte.
Heinrich IV. raubte die Heilige Lanze
Im Laufe der Jahre etablierte sich die Lanze als Insignie der Könige und Kaiser und Otto III. war von ihr so angetan, dass er eine Kopie für Herzog Boleslaw I. von Polen anfertigen ließ, der wiederum daraus seinen Anspruch auf die polnische Königswürde ableitete. Nach Ottos Tod in Italien im Jahr 1002 wurde sein Leichnam samt der Reichsinsignien nach Aachen überführt. Eine weitere Anekdote unterstreicht auch hier die Wichtigkeit der Lanze. Der spätere Heinrich II., als Heinrich IV. noch Herzog von Bayern und Urenkel Kaiser Heinrichs I., raubte die Insignien und wollte sich dadurch den Anspruch auf die Königswürde sichern. Doch die Heilige Lanze fehlte. Sie wurde aufgrund ihrer Wichtigkeit dem Zug vorausgeschickt und befand sich bereits am Zielort. Trotz der Festsetzung des Bischofs von Würzburg durch Heinrich erhielt dieser die Lanze erst, als er 1002 in Merseburg nachträglich zum König geweiht wurde und versprach, das geltende Recht zu achten.
Parallel zum Bedeutungszuwachs der Heiligen Lanze änderte sich auch die Deutung ihrer Herkunft. Zur Zeit Ottos I. wurde die Lanze schlicht »lancea sacra« genannt, also Heilige Lanze, während sich bereits einige Jahrzehnte später die Legende der Mauritiuslanze herausbildete, die von Mauritius, einem christlichen Märtyrer, getragen wurde, der von Kaiser Maximian zum Tode verurteilt wurde. Diese Herkunftserklärung wurde immer populärer und schon um 1100 wurde von der »lancea sancti Mauritii« gesprochen und Heinrich III. ließ die Lanze von einer silbernen Manschette mit einer dem Heiligen Mauritius gewidmeten Inschrift umfassen. Im Zusammenhang mit dieser Ursprungslegende und dem Nimbus der Unbesiegbarkeit des Trägers avancierte die heilige Lanze immer mehr zu einer der wertvollsten Reliquien der Christenheit.
Nagel vom Kreuz Christi soll in der Lanze stecken
Doch allzu lange hielt sich die Lanze nicht an der Spitze der wichtigsten Reliquien und Insignien. Bereits im 12. Jahrhundert trat an ihre Stelle die Reichskrone, die den Königen und Kaisern bei der Wahl als Legitimation diente. Erst Karl IV. entdeckte ihre Bedeutung als Herrschaftslegitimation wieder. Seine Rivalen aus dem Hause Wittelsbach waren im Besitz der Krone und so ließ er sich die Lanze als Reliquie vom Papst bestätigen. Dabei trat eine neuere Legende zum Vorschein, die besagte, es handle sich dabei um die Lanze des römischen Hauptmanns Longinus, der bei der Kreuzigung Jesu zugegen gewesen sei und dessen Tod mit einem Stich dieser Lanze überprüft habe. In diesem Zusammenhang wurde vom Papst nicht nur bestätigt, es handle sich um eben jene Lanze, sondern auch, dass sie neben den Splittern vom Kreuz Christi einen Nagel davon enthalte, was die Lanze zu einer Doppelreliquie machte. 1354 etablierte Heinrich schließlich einen Feiertag zu Ehren der Lanze, das „Hochfest der Heiligen Lanze samt Kreuznagel“, wobei bei dieser Gelegenheit eine erneute Ummantelung, diesmal aus Gold, an der Lanze angebracht wurde, um einen Bruch, den diese erlitten hatte, zu fixieren. Dies verlieh der Heiligen Lanze auch ihr heutiges Aussehen, da die Spitze seitdem nicht mehr verändert wurde.
Im Zuge der Hussitenkriege in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts brachte Kaiser Sigismund die Reichskleinodien, darunter auch die Lanze, im Jahr 1424 nach Nürnberg, um sie fortan dort dauerhaft zu bewahren. Die Gefahr eines Verlustes bei ständigen Ortswechseln war auf Dauer einfach zu gefährlich. Im folgenden Jahrhundert verlor insbesondere die Heilige Lanze durch die einsetzende Reformation zunehmend an Bedeutung.
Der letzte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, Franz II., veranlasste im Zuge der Napoleonischen Kriege 1796 die Verlegung der Insignien nach Regensburg, ehe die Lanze 1800 nach Wien in die Schatzkammer der Hofburg gebracht wurden. Seine Befürchtung war dabei insbesondere, Napoleon könnte nach der Erbeutung der Insignien den Titel des Kaisers für sich beanspruchen. Nach dem Ende des Krieges bemühte sich die Stadt Nürnberg, ebenso wie Aachen, mehrfach, die Reichsinsignien zurückzuholen, doch deren Anspruch wurde von der Regierung in Wien stets zurückgewiesen.
Hitler ließ die Reichsinsignien nach Nürnberg bringen
Doch Adolf Hitler hatte andere Pläne. Nach dem Anschluss Österreichs ließ er die Insignien nach Nürnberg überführen und dort ausstellen, wobei hier wiederum die Lanze exponiert betrachtet wurde, da man sich auf die Unbesiegbarkeit des Besitzers berief. Doch während der immer stärker werdenden Bombardements deutscher Städte durch die Alliierten wurden die Kleinodien in einen Luftschutzbunker gebracht, wo sie 1945 von den Amerikanern entdeckt und 1946 zurück nach Wien in die Schatzkammer der Wiener Hofburg gebracht wurden. Dor befinden sie sich noch heute und können besichtigt werden.
Die Heilige Lanze hat indes massiv an Bedeutung verloren. War sie zunächst das zentrale Symbol der gottgewollten Herrschaft der deutschen Könige und Kaiser, trat später die Reichskrone an ihre Stelle. Die Reformation, die Aufklärung und die aufkommende Säkularisierung schmälerten ihren Wert beträchtlich. Als 1914 Analysen die Entstehung auf das 8. Jahrhundert datierten, verlor sie auch ihre Wertigkeit, die ihr ihre mythologische Herkunft verlieh. Da die Lanze bis auf die goldene Umfassung der Bruchstelle aus einfachen Materialien besteht, ist sie heute der mitunter am wenigsten beachtete Bestandteil der Reichsinsignien.
Martin Hochhuber
Zuletzt geändert: 02.06.2015