Ein „halbnackter Fakir“, wie Churchill Mahatma Gandhi nannte, brachte die britische Kolonialmacht in Indien und Südafrika mit seinem gewaltlosen Widerstand in große Verlegenheit. Doch Gandhis Methoden sind auch umstritten.
Schon vor 2000 Jahren, so hielt ein Mann in Lausanne Mahatma Gandhi vor, habe Jesus die Gewaltfreiheit gepredigt. Insgesamt doch wohl eher erfolglos, angesichts des „Urteils der Geschichte“. Ob Gandhi nicht enttäuscht sei, diesen selben Rat Jesu einfach zu wiederholen, wollte der Schweizer von dem prominenten Inder wissen. Der zierliche Mann lief auch mitten im Schweizer Dezember des Jahres 1931 nur in einfachen Sandalen durch die Weltgeschichte. Um die Hüften hatte er eine Art Lendentuch aus selbst gesponnener indischer Baumwolle gewickelt. Dieser „halbnackte Fakir“, wie ihn Winston Churchill nannte, lächelte den Fragesteller an: „Nun, glauben Sie, 2000 Jahre sind eine lange Zeit, um so etwas Schwieriges zu lernen, wie Schlechtes mit Gutem zu vergelten?“
Schlechtes mit Gutem vergelten, seine Feinde lieben und dem, der einen schlägt, auch die andere Wange hinhalten – die jesuanischen Grundsätze aus der Bergpredigt des Neuen Testaments hatte Gandhi längst zu seinen eigenen gemacht. Martin Luther King ließ sich im politischen Kampf stark von Gandhis Methoden leiten. Er war in den Augen Kings der Erste, der Jesu Liebesethik zu einer wirksamen sozialen Macht gesteigert hatte. Albert Schweitzer sah Gandhi dagegen auf den Spuren Buddhas. Gandhi selbst blieb Zeit seines Lebens dem Hinduismus treu, und zwar in der Form, wie er selbst ihn auslegte. Hinduismus, Buddhismus, Islam oder Christentum: In Gandhis Welt hatten alle Glaubensbekenntnisse Platz. Religiöse Toleranz gehörte zu seiner Grundausstattung.
Durch Fasten zwang Mahatma Gandhi die Politik in die Knie
1869 wurde er als Mohandas Karamchand Gandhi in die Familie des obersten Ministers des Mini-Fürstentums Porbandar in der westindischen Provinz Gujarat geboren. Den Vater erlebte Mohandas als einen Mann mit sehr starkem Gerechtigkeitssinn und religiöser Offenheit. Die Mutter beeindruckte ihren Sohn vor allem durch ihre strenge Religiosität und Selbstdisziplin. Darin eingeschlossen: Fasten und andere Gelübde. Sie sollten in Mahatma Gandhis Leben eine zentrale Rolle spielen. So auch wenige Tage vor seinem gewaltsamen Tod im Januar 1948. Wieder einmal hatte der 78-Jährige öffentlichkeitswirksam zu fasten begonnen, als äußerstes Mittel: „Niemand hört mehr auf mich“, klagte er. Er sei ein „Rufer in der Wüste“. Um ihn herum: nur Mordlust, Machtgier und Blutvergießen. Hindus und Muslime massakrierten sich seit Monaten gegenseitig. Doch nun zwang er ein letztes Mal der Politik seinen Willen auf.
Das seit Kurzem souveräne Indien unter Premierminister Jawaharlal Nehru, Gandhis politischem Ziehsohn, willigte nach fünf Tagen Fasten ein, dem anderen Nachfolgestaat Britisch-Indiens, dem überwiegend muslimischen Pakistan, den vertraglich vereinbarten Anteil am gemeinsam von den Briten geerbten Staatsschatz auszuzahlen. Gandhi verlangte den Ausgleich von Hindus und Muslimen und zwang die indische Regierung mit seiner lebensgefährdenden Aktion, den Vertrag zu erfüllen. Viele Hindus in Indien empfanden dies als Verrat an ihrer Nation, Gandhis Fasten als Zumutung. Denn Indien und Pakistan befanden sich im Krieg um Kaschmir. Mit dem frischen Geld konnte der Feind seine Armee weiter aufrüsten. Die Spaltung Britisch-Indiens im August 1947 in einen überwiegend muslimischen und einen vorrangig von Hindus bewohnten Teil kostete mehr als eine Million Menschenleben.
Beim öffentlichen Gebet wird Gandhi erschossen
Derart aufgeheizt schlugen die Wellen des Hasses monatelang zwischen Hindus und Muslimen über Gandhis Heimat zusammen, all seiner Bemühungen um Frieden und Gewaltlosigkeit zum Trotz. Zwei Tage nach der Einigung warf ein radikaler Hindu bei einer von Gandhis öffentlichen Gebetsstunden in Delhi, in denen er immer auch Koranverse zitierte, eine Bombe. Sie verfehlte ihr Ziel. Zehn Tage später streckte ein anderer aus dem Verschwörerkreis Gandhi mit drei Schüssen in die nackte Brust nieder. Mit der Anrufung Gottes, „He Rama“, auf den Lippen verstummte die „Große Seele“, wie die Übersetzung des Ehrennamens Mahatma lautet, für immer. Die Symbolfigur für die Einheit Indiens starb am 30. Januar 1948. Der Biograf Albrecht Hagemann schreibt: „Plötzlich schien der Subkontinent den Atem anzuhalten und das Morden erstarb.“ Nicht auszudenken, wenn der Attentäter ein Muslim gewesen wäre.
Mit dem öffentlichen Fasten verfolgte Gandhi nie nur einen politischen Zweck. Er fastete auch, um seine eigene Seele zu reinigen. Die Tatsache, dass sein Rat nicht mehr gehört wurde, nahm er gewissermaßen persönlich. Mit dem Fasten wollte er sich mindestens ebenso sehr selbst dafür bestrafen, nicht genügend spirituelle Energie für den Frieden aufgebracht zu haben, wie er die Konfliktparteien zum Einlenken zwingen wollte. Bis heute wird viel darüber diskutiert, inwieweit die gezielten Fastenaktionen vielleicht auch als eine Form der Gewaltanwendung, zumindest aber der Nötigung zu sehen sind. „Gewaltlosigkeit, Ahimsa, ist der erste Artikel meines Glaubens“, sagte er einmal. Ahimsa ist einer der drei wichtigsten Grundsätze des Jainismus, einer 2500 Jahre alten Glaubenslehre, die in Gandhis Heimat weit verbreitet war. Die anderen heißen Bedürfnislosigkeit (Aparigraha) und Wahrhaftigkeit (Satya). Gandhi entwickelte seine Methode des gewaltlosen Widerstandes in Südafrika, wo er zwischen 1893 und 1914 lebte. Er nannte sie Satyagraha. In seiner Muttersprache Gujarati bedeutet es so viel wie: „Festhalten an der Wahrheit“.
Gandhi wollte in England als Rechtsanwalt Karriere machen
Eigentlich hatte er, der in England studiert hatte und sich teure Anzüge schneidern ließ, dort als Rechtswanwalt Karriere machen wollen. Doch die Gewalt gegenüber der nicht weißen Bevölkerung machte ihn zum Kämpfer für die Gerechtigkeit. Gandhi bewunderte Henry David Thoreau und sein Konzept des bürgerlichen Ungehorsams. Der US-Amerikaner Thoreau betonte das Recht der Bürger, sich unmenschlichen Gesetzen zu widersetzen, etwa der Sklaverei, und war für seine Überzeugung ins Gefängnis gewandert. Fasziniert war Gandhi auch von der Radikalität Leo Tolstois. Der russische Dichter wollte die Diskrepanz zwischen Jesu Lehre und der Lebensführung der meisten Christen überwinden. Er entschied sich im Alter von fast 60 Jahren für eine betont einfache Lebensweise, lief nur noch barfuß, arbeitete mit den eigenen Händen und lehrte die russische Dorfbevölkerung Gewaltlosigkeit. Gandhi gründete in Südafrika selbst zwei landwirtschaftliche Dorfgemeinschaften, von denen er eine „Tolstoi-Farm“ nannte. Hier wurden auch die Satyagrahis geschult, Gandhis gewaltlose Kämpfer.
In Indien betrieb er später ebensolche Farmen, Ashrams genannt. In diesen Wohngemeinschaften, schreibt die Biografin Susmita Arp, „wollte Gandhi nichts Geringeres, als exemplarisch die Probleme Indiens lösen“. Nicht unbedingt zur Freude der Bewohner. Sie unterliefen Gandhis strenge Regeln immer wieder, sodass er die Aufsicht entnervt in andere Hände gab. Jeder hatte Dienst mit den eigenen Händen zu leisten, privater Besitz war verboten. Zu den ehernen Grundsätzen gehörte aber auch die strikte sexuelle Enthaltsamkeit, selbst unter Eheleuten. Gandhi, der mit seiner Gattin Kasturbai vier Söhne hatte, scheint in dieser Hinsicht ein besonderes Trauma mit sich herumgetragen zu haben. Als 13-Jähriger zwangsverheiratet, hielt ihn der sexuelle Appetit oft genug von der Schularbeit ab. Am Tod seines Vaters gab er sich eine Mitschuld, weil er, der 16-Jährige, anstatt sich ausgiebiger um den Sterbenskranken zu kümmern, in der Stube nebenan mit seiner Frau schlafen wollte.
Seine Gewaltlosigkeit machte Mahatma Gandhi unangreifbar
1906 legte er das Gelübde ab, fortan in Armut und Keuschheit zu leben. Geist und Körper sollten frei sein von allem Überflüssigen. Die dabei gewonnene spirituelle Energie würde ihm im Kampf gegen das Unrecht helfen: „Ein Mann, dessen Geist der tierischen Leidenschaft verfällt, ist unfähig zu jeder großen Tat.“ Satyagraha sollte dem Gegner kein Leid zufügen, sondern ihm die Augen öffnen. So informierte Gandhi die Widersacher genau über seine Pläne, um ihnen die Möglichkeit einzuräumen, ihre Aggression zurückzunehmen. Blieben die Machthaber jedoch bei ihrer Linie, übertraten die Satyagrahis bewusst die als ungerecht empfundenen Gesetze oder verweigerten die Steuerzahlung selbst um den Preis, Opfer von Gewalt zu werden oder ihren gesamten Besitz zu verlieren. Sie „hielten an der Wahrheit fest“ und setzten so vor aller Augen den Gegner moralisch ins Unrecht. Als Gandhi 1914 Südafrika in Richtung Indien verließ, bekannte ein hoher Beamter: „Ich wünsche mir oft, dass Sie wie die englischen Streikenden zur Gewalt greifen würden, dann wüssten wir sofort, wie wir uns Ihrer entledigen könnten.“
In den nächsten Jahren machte sich Gandhi in Indien einen Namen als Vorkämpfer für die Bauern. Mit Aktionen des friedlichen Widerstandes gelang es immer wieder, Behördenwillkür aufzudecken und rückgängig zu machen. Doch die Inder folgten dem Mahatma nicht in jedem Fall. Als er während des Ersten Weltkrieges versuchte, Rekruten für das Empire zu werben, schlug die Aktion fehl. Der Prediger und Praktiker der Gewaltlosigkeit und die Anwerbung von Soldaten – niemand brachte diese Gegensätze auf einen Nenner. Auch das strategische Ziel Gandhis, im Gegenzug für seinen Einsatz mehr Rechte für die Inder zu erhalten, verfehlte er.
Den Salzmarsch sah Mahatma Gandhi später als Fehler
Im April 1919 bekannte Gandhi, einen „Fehler von der Größe des Himalaya“ begangen zu haben, als er in ganz Indien einen Tag der Selbstreinigung ausgerufen hatte. Die Menschen sollten fasten und beten anstatt ihren Geschäften nachzugehen. Im Prinzip ging es um einen Generalstreik aus Protest gegen repressive Notstandsgesetze. Doch die Aktion war schlecht organisiert, es kam zu Gewalt auf indischer Seite. Im nordindischen Amritsar nahm dies ein britischer General zum Anlass, ein Exempel zu statuieren. Er ließ seine Soldaten ohne Vorwarnung in die Menge schießen. 400 Menschen starben. Die Gewalt auf beiden Seiten steigerte sich, die verhassten Gesetze blieben bestehen.
Gandhis berühmteste Aktion war der Salzmarsch von 1930. Die Provokation bestand darin, an den Stränden Salzbrocken aufzusammeln und so das staatliche Salzmonopol zu brechen. Der Salzmarsch stand in Zusammenhang mit dem größeren Ziel der Unabhängigkeit Indiens. Er war als wirksamer Nadelstich gedacht im Rahmen einer Kampagne der Nichtzusammenarbeit mit staatlichen Stellen sowie einer Steuerverweigerungsaktion. Gandhi und mehr als 50 000 seiner Anhänger wurden verhaftet. Das weltweite Medieninteresse war geweckt, die Kolonialmacht geriet unter Druck. Unter den Schlagstöcken der Briten sanken völlig gewaltlose Menschen blutüberströmt zusammen, nur weil sie das Salz ihres eigenen Meeres beanspruchten. Über Hundert Menschen starben durch Polizeigewalt, zahlreiche Steuerverweigerer verloren ihren Besitz. Die Satyagrahis hielten die Repression über viele Monate durch. Moralisch standen sie auf der Gewinnerseite. Doch wo lag der unmittelbare Erfolg?
Gandhis Methode brauchte öffentliche Aufmerksamkeit
Vizekönig Lord Irwin ließ ein Jahr nach Beginn der Aktion die prominentesten Häftlinge frei, lud Gandhi in sein Haus ein und umgarnte ihn so lange, bis der Geschmeichelte in Irwins Vorschlag einwilligte: Salzsieden für den Hausgebrauch an den Küsten blieb zwar erlaubt; vorenthaltene Steuern mussten aber nachgezahlt werden; die brutale Polizeigewalt wurde nicht untersucht; Gandhi hatte seine Kampagne einzustellen. Nehru empfand dies als Verrat an den Bauern.
Ist Satyagraha in jedem Fall das Mittel der Wahl, wenn Unrecht zu Recht wird? Nach der Reichspogromnacht forderte Gandhi die deutschen Juden zum gewaltlosen Widerstand auf. Martin Buber widersprach heftig: Ein Regime wie das der Nazis werde sich niemals auf die entscheidende Bedingung eines erfolgreichen Satyagraha einlassen, durch die es erst wirksam werden kann: das öffentliche Martyrium. Ein „jüdischer Gandhi“, schrieb ihm ein anderer, könne in Deutschland fünf Minuten auftreten, dann finde er sich unter dem Fallbeil wieder. Nicht der nachhaltige Erfolg seiner Methode, sondern seine persönliche Glaubwürdigkeit bleibt daher Gandhis größte Stärke: „Künftige Generationen“, so Albert Einstein, „werden kaum glauben können, dass einer wie er in Fleisch und Blut auf dieser Erde ging.“
Ulrich Graser
Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 12/2014 „Die Macht des Friedens“
Zuletzt geändert: 18.05.2017