G/GESCHICHTE Porträt
Karl May – Werk und Wirkung
Mein Vater weinte fast nie – nur wenn Pierre Brice seine pathetische Sterbeszene in „Winnetou III“ mimte, musste er sich doch die Tränen verdrücken. Ohne die Werke Karl Mays wäre wohl die deutsche Literaturgeschichte nicht sonderlich ärmer, aber der Sachse hat das Leben von Generationen ungemein bereichert. Mit Old Shatterhand konnten sie den Wilden Westen erobern, und an der Seite Kara Ben Nemsis und Hadschi Halef Omars verfielen sie dem Zauber des Orients zwischen Mekka und Konstantinopel. Es waren Fluchten aus der oft erdrückenden Enge deutscher Spießigkeit.
Die Macht der Literatur hat Karl May die Existenz gerettet. Nach Kleinkriminalität und Zuchthaus scheint die Fahrt in den Abgrund vorgezeichnet. Dann findet der Hochstapler zur Feder: Zuerst verfasst er billige Kolportageromane, dann katapultiert sich der Autor mit seinen Reiseerzählungen in den Himmel der Erfolgsautoren. Danach wohnt der Sohn armer Weber in einer Villa und präsentiert sich seiner Leserschaft als weit gereister Überheld.
„Es gibt nur Karl May und Hegel – alles dazwischen ist eine unreine Mischung“, resümiert Ernst Bloch. Für den Philosophen ist es die „Traumkraft“, die von den Büchern des Schriftstellers ausgeht. Was auf den ersten Blick naiv wirkt, befriedigt eine tiefe Sehnsucht des Menschen: eine Welt mit klaren Konturen, in der das Gute stets über das Böse triumphiert.
Ihr, Euer
Dr. Klaus Hillingmeier
Chefredakteur
Themen dieser Ausgabe
Lokaltermin bei Shatterhand
Wunderkammer und Fluchtort der Fantasie. Ein Besuch im Karl-May-Museum von Radebeul
Der Elende
Der Vater brutal, die Mutter herzlos. Mays steiniger Weg führt vom Lehrerseminar ins Zuchthaus
Psychogramm
Warum Karl May ein Hochstapler werden musste
Die Liebe des Ulanen
Karriere dank Kitsch. Wie mit billigen Kolportageromanen der erste Erfolg kommt
Der Weg zum Edelmenschen
Von mystischen Welten und letzten Schriften der Hoffnung
Freund der Indianer
Wie der Forscher und Maler George Catlin ihn inspiriert
Im Land der Apachen
Die Wildwest-Romane um den „roten Gentleman“ Winnetou und Blutsbruder Old Shatterhand
Balduin Möllhausen
Erfolgreicher Konkurrent und literarisches Vorbild
Reise in die Neue Welt
Als Karl May 1908 seinem ersten Indianer im Reservat begegnet
Austen Henry Layard
Der wahre Kara Ben Nemsi. Auf den Spuren des englischen Archäologen durch den Orient
Abenteuer in der Wüste
Kurdische Freiheitskämpfer und verfolgte Jesiden. Warum der Orientzyklus um Kara Ben Nemsi noch immer aktuell ist
Die Reise in den Orient
1899 bricht Karl May in den Osten auf. Zwischen Kairo und Sumatra findet er sich selbst
Bewundert und geächtet
Von den Nazis geschätzt, spaltet Karl May nach 1945 die Gemüter. Erst in der späten DDR erlebt der Autor eine Renaissance
Rote Brüder
Wie 1847 Comanchen und deutsche Auswanderer zu guten Freunden werden
Märchen aus der Prärie
1962 erobert Pierre Brice als Winnetou die Leinwand. Es ist der Beginn einer Kultreihe
Wildwest hinter Hamburg
Pferde, Stars und Sensationen: Ein Besuch bei den Festspielen von Bad Segeberg und Elspe
Wohin geht der Ritt?
Der Karl-May-Forscher Thomas Kramer über die Zukunft von Karl May in Zeiten der Wokeness