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Die drei Zeitalter Mittelerdes

Die erste Staffel der neuen Amazon-Serie „Ringe der Macht“ ist gerade zu Ende gegangen. Sie spielt im Zweiten Zeitalter Mittelerdes. Was dort in Tolkiens Original geschieht, und welche Geschichten der Autor in den anderen beiden Zeitaltern erzählt, erfahrt ihr hier.

von Katharina Maier

Überall im „Hobbit“ und im „Herrn der Ringe“ finden sich Spuren einer lang vergangenen Zeit – Namen, Lieder und Anspielungen auf historische Ereignisse, die Mittelerde genauso durchziehen wie die Ruinen untergegangener Zivilisationen. Der Leser versteht: Hier liest er das Ende einer Geschichte, nicht deren Anfang. Im Folgenden begeben wir uns auf eine kompakte Reise durch die drei Hauptzeitalter der Tolkien’schen Geschichte – jene Zeitalter, in denen die Welt schon erschaffen war, in denen die Erinnerung an diese Erschaffung in Mittelerde aber noch lebendig ist.

Erstes Zeitalter (4902 Jahre)

Das Erste Zeitalter, auch Altvorderenzeit genannt, beginnt mit dem Erwachen der Elben auf dem Kontinent Mittelerde. Noch scheinen weder Mond noch Sonne über der Welt Arda. Nur Valinor, das im äußersten Westen gelegene Land der engelhaften Valar, wird vom Licht zweier heiliger Bäume erhellt. Nach den Elben erwachen die Großen Adler und die Ents (Hüter der Geschöpfe Ardas) sowie die sieben Väter der Zwerge. Zugleich züchtet der gefallene Valar Melkor Zerrbilder der Kinder des Einen: Orks, Trolle, Drachen und andere Ungeheuer.

Auch Sauron (re.) war mal Diener. Einst gehorchte er dem Herrn des Bösen, Melkor (li.). Nach dessen Verbannung stieg Sauron im Zweiten Zeitalter zum neuen Antagonisten in Mittelerde auf. | Bild: Wikimedia/Melkor65

Der Kampf gegen Melkor, der Mittelerde unterwerfen will, bestimmt das Erste Zeitalter. Scheinbar geläutert, stachelt er die Elben auf, die der Einladung der Valar in die Unsterblichen Lande gefolgt sind. Ein Großteil der Elben erhebt sich gegen die Valar, während es Melkor gelingt, die Zwei Bäume zu zerstören. Aus den Bruchstücken erschaffen die Valar Mond und Sonne. Die rebellischen Elben verbannen sie nach Mittelerde, andere gehen aus Stolz ins Exil.

Die Jahre der Bäume sind zu Ende. Es beginnen die Jahre der Sonne, in denen wir uns immer noch befinden. Denn Tolkien entwirft mit seinem ­„Legendarium“ nicht die Geschichte eines fantastischen Reiches, sondern eine erfundene verlorene Geschichte ­unserer eigenen Welt. Tolkien nennt es eine „sekundäre Welt“, die zwar nicht real, aber doch wahr ist. Mit der Sonne erwachen die Menschen, die liebsten Kinder Ilúvatars. Sie verbünden sich mit den Elben, die im Westen Mittelerdes eine erste Hochzivilisation gegründet haben, und kämpfen gegen Melkor, der jetzt Morgoth heißt („Schwarzer Feind der Welt“).

Bei diesen Kriegen geht es auch um die vom Elben Feanor in Valinor gefertigten Edelsteine Silmaril, die das letzte Licht der Zwei Bäume in sich tragen. Doch erst als der Halbelb Earendil nach dem Fall der herrlichen Elbenstadt Gondolin in den Westen segelt und die Valar zu Hilfe holt, wird Morgoth endgültig besiegt und in die Äußere Leere jenseits von Arda verbannt.

Zweites Zeitalter (3441 Jahre)

Die Geschehnisse der Altvorderenzeit haben Arda für immer verändert. Der Westen Mittelerdes, Heimat der aus Valinor verbannten Elben, ist im Meer versunken. Doch das Angebot der Valar, in die Unsterblichen Lande zurückzukehren, schlagen viele aus. In Mittelerde sind die Elben, die das Licht der Zwei Bäume gesehen haben, hochverehrt. Zusammen mit Grau- und Waldelben, die den Kontinent nie verlassen haben, gründen diese „Hochelben“ neue Königreiche, in denen sie die Schönheit von Valinor nachbilden wollen.

Sauron, ein mit Morgoth gefallener Maia („niederer Engel“), verführt sie zur Anfertigung von Zauberringen, um den Wandel der Welt aufzuhalten. Hier setzt die neue Serie „Die Ringe der Macht“ an, die im September 2022 auf Amazon Prime startet. Über Jahrtausende stattfindende Ereignisse werden darin zeitlich verdichtet, um die relative Kurzlebigkeit der menschlichen Helden zu kompensieren.

Auf in die Schlacht: Die Menschen von der Insel Númenor kämpfen mit Stahl­bögen gegen ihren Feind. Ihr Ziel ist es, Sauron zur Strecke zu bringen. | Illustration: Anke Eißmann/www.anke.edoras-art.de

In Tolkiens Version der Geschichte gehen Bestrebungen, Zeit und Tod Einhalt zu gebieten, nie gut aus. Sauron schmiedet einen Meisterring, um alle anderen zu beherrschen. Zwar entlarven die Elben seine Absicht und verbergen die drei Elbenringe, aber der neue Dunkle Herrscher baut seine Macht in Mittelerde aus.

Hilfe kommt von jenseits des Meeres. Den Menschen, die gegen Morgoth kämpften, haben die Valar die Insel Númenor nahe der Küste von Valinor geschenkt. Dort entsteht die größte menschliche Hochkultur aller Zeitalter. Als die Númenorer Sauron in Ketten auf ihre Insel bringen, sät er Unzufriedenheit in den Herzen der Sterblichen. Die Menschen segeln gegen das ihnen verbotene Valinor. Da greift Ilúvatar ein: Er formt die Scheibenwelt Arda zu einer Kugel, Númenor geht unter. Nur Elbenschiffe können in die Unsterblichen Lande gelangen.

Die überlebenden Númenorer unter dem Valar-Getreuen Elendil gründen zwei neue Königreiche in Mittelerde. Bald greift Sauron das südlich gelegene Gondor an, und das „Letzte Bündnis“ aus Menschen und Elben zieht gegen ihn ins Feld. Elendil fällt, ebenso der letzte Hohe König der Elben, aber Sauron verliert den Einen Ring und damit seine körperliche Gestalt.

Drittes Zeitalter (3021 Jahre)

Das Dritte Zeitalter beginnt dramatisch: Statt Saurons Ring ins Feuer des Schicksalsberges zu werfen, nimmt Elendils Sohn Isildur ihn an sich. Bald darauf kommt Isildur um, und der Eine Ring geht verloren. Nach Jahrhunderten der Blüte fällt das Nordreich der Númenorer unter dem Sturm finsterer Kräfte, und die Königslinie von Gondor stirbt aus. Nun wartet das letzte große Reich der Menschen auf die Rückkehr eines Königs aus Elendils Geschlecht und bewacht die Grenze zu Mordor, das Schwarze Land Saurons.

Nördlich von Gondor lässt sich ein junges Reitervolk nieder. Den Menschen von Rohan fehlt die Hochkultur der Númenorer, doch sie bringen frischen Wind nach Mittelerde. Auch rührt sich ein bislang unbemerktes Völkchen: Die klein gewachsenen Hobbits führen ein gemütliches ländliches Leben und kümmern sich nicht um den Rest von Mittelerde.

Die Elben ziehen sich in Refugien inmitten der Natur zurück, wo sie die Erinnerung an das Gewesene bewahren. Die großen Reiche der Zwerge fallen Dienern von Morgoth zum Opfer. Fast überall in Mittelerde ist Saurons Wiedererstarken zu spüren. Als ein Bollwerk wird der Weiße Rat gegründet. Zu dessen Mitgliedern gehören die Zauberer Gandalf und Saruman – von den Valar zum Schutz Mittelerdes entsandte Maiar. Doch Saruman erliegt dem Wunsch, die Welt zu beherrschen.

Der letzte Sonnenstrahl des Durinstags enthüllt im „Hobbit“ das Schlüsselloch der geheimen Tür. Bilbo und die Zwerge haben somit am Einsamen Berg den Eingang in Smaugs Höhle gefunden. | Illustration: Anke Eißmann/www.anke.edoras-art.de

Gandalf bleibt seinem Auftrag verpflichtet. Als ein Zwergenprinz das Reich seiner Väter von dem Drachen Smaug zurückerobern will, wählt Gandalf den Hobbit Bilbo Beutlin als Meisterdieb für dieses Unterfangen aus. Und Gandalfs Plan geht auf: Nicht nur gelingt es dem Abenteuern zunächst recht abgeneigten Bilbo, den Zwergen ihre Heimat wiederzugeben; der Hobbit gelangt auch in den Besitz eines Zauberrings, der ihn unsichtbar machen kann. In großer Not hat er ihn dem Geschöpf Gollum gestohlen, das sich in den Höhlen unter dem Nebelgebirge mit sich selbst und seinem Schatz unterhält. Dies ist die Geschichte von „Der Hobbit“, die in „Der Herr der Ringe“ weitererzählt wird. Bilbos Fund entpuppt sich als Saurons Meisterring, und sein Neffe Frodo erklärt sich bereit, das böse Schmuckstück in den Feuern des Schicksalsberges zu zerstören. Begleitet wird er von der Gemeinschaft des Ringes. Unter den bunt gemischten Gefährten befindet sich Aragorn, der Erbe von Elendil und rechtmäßige König von Gondor. Die Gruppe muss viele Abenteuer bestehen und viele Schlachten schlagen, nicht zuletzt gegen den abtrünnigen Saruman.

Frodo schafft es mit seinem treuen Gärtner Samweis nach Mordor. Ihr Führer dorthin ist ausgerechnet Gollum. Dass Bilbo das jämmerliche Geschöpf, das ihn mit Haut und Haaren fressen wollte, einst aus Mitleid nicht erschlug, zahlt sich aus. Im Schicksalsberg angekommen, erliegt Frodo der Versuchung und steckt sich den Einen Ring an den Finger. Gollum, von demselben Verlangen getrieben, beißt Frodo den Finger samt Ring ab und versinkt mit seiner Beute in der Lava. Die Zerstörung des Ringes bedeutet auch die Vernichtung Saurons. Aragorn, der die Menschen von Gondor und Rohan in die Schlacht gegen die Schergen Sarumans und Saurons geführt hat, besteigt den Thron und vereint die Völker Mittelerdes.

Überraschender Besuch: Zauberer Gandalf sucht Hobbit Frodo in dessen Zuhause im Auenland auf. | Illustration: Anke Eißmann/www.anke.edoras-art.de

Damit beginnt das Vierte Zeitalter. Die Helden fahren mit Elbenschiffen in die ­Unsterblichen Lande oder sterben nach einem erfüllten Leben den Tod der Menschen (und Hobbits). Mit ihnen schwindet das Wissen um die Altvorderenzeit. Im Laufe von 6000 Jahren wird Arda zu unserer Welt von heute – ohne Erinnerung an die einstige Schönheit, Tapferkeit und Weisheit.

Das große Thema der Geschichte ist der Verlust: Die Helden erringen Siege, aber sie verlieren dabei auch immer – geliebte Wesen an den Tod, den Seelenfrieden, die Heimat oder etwas Schönes, Namenloses. Der Verlust ist dem Lauf der Welt eingeschrieben. Wer ihn nicht hinnimmt, verliert viel Schlimmeres: sich selbst.

Das ist die eine Seite von Tolkiens Botschaft, die wohl die profunde Melancholie erklärt, die sein Freund C. S. Lewis in „Der Herr der Ringe“ erkannte. Die andere Seite ist hoffnungsfroh: Viele kleine Leute können eine schreckliche Lage zum Guten wenden. Mut, Freundschaft, Opferwillen und die Weigerung, sich der Verzweiflung zu ergeben: All das ist nötig für den Sieg des Guten. Hätte nur einer dieser Menschen, Elben, Zwerge, Maiar oder Hobbits den einfacheren oder egoistischeren Weg gewählt, wäre die Macht des Bösen nicht gebrochen worden.

 

 

Der Text stammt aus unserem aktuellen G/GESCHICHTE-Porträt „Der Herr der Mythen – J.R.R. Tolkien und seine Welt“. Weitere Infos zur Ausgabe hier, bestellbar hier.