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„Für Hitler gab es nur: Sieg oder Tod“

Im Interview mit G/GESCHICHTE erklärt Militärhistoriker Sönke Neitzel, warum der Zweite Weltkrieg lange vor Stalingrad verloren war, aber die Wehrmacht auch nach der dortigen Niederlage weiter an ihre Überlegenheit glaubte.

Sönke Neitzel hat den deutschlandweit einzigen Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam inne. Zuvor lehrte er unter anderem an der University of Glasgow und der London School of Economics. | Foto: Kai Bublitz Fotoproduktion

Interview: Dirk Liesemer

G/GESCHICHTE: Die Schlacht bei Stalingrad gilt heute als der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs. Wurde das damals von den Soldaten auch so erlebt – und ist diese Sichtweise überhaupt korrekt?
Sönke Neitzel: Nein, denn die Rede vom Wendepunkt deutet an, dass Hitler zuvor eine Chance hatte, den Krieg zu gewinnen. Das war mit dem Eintritt der USA im Dezember 1941 nicht mehr möglich. Und zuvor war schon Hitlers Kriegsplan einer schnellen Eroberung der Sowjetunion gescheitert – nicht erst vor Moskau, sondern bereits im August 1941. Damit war im Prinzip Game over. Dass Stalingrad oft als Wendepunkt bezeichnet wird, hat mit der Symbolwirkung der Stadt und der Schlacht zu tun. Denn hier wurde erstmals eine deutsche Armee von der Roten Armee eingekesselt und vernichtet. Mit der Niederlage von Stalingrad änderte sich jedoch die Wahrnehmung: Nur Tage danach proklamierte NS-Propagandaminister Joseph Goebbels den „totalen Krieg“. Aber Wahrnehmung und Realität sind eben zweierlei. Stalingrad war eine psychologische Kriegswende, aber der Krieg war schon lange zuvor verloren.

Wie ist das Scheitern der Wehrmacht, die ja als sehr professionell galt, in Stalingrad zu erklären?
Hitler unterschätzte die Rote Armee massiv, weshalb die Wehrmacht für das „Unternehmen Blau“ viele zu wenig Kräfte erhielt. Ursprünglich war die Stadt nur ein Nebenziel auf dem Weg zum Kaukasus. Beim Angriff auf Stalingrad waren die deutschen Kräfte dann völlig überfordert, zumal Hitler etliche Kampfverbände an andere Fronten verlegte. Im Grunde war früh klar, dass die Deutschen die Rote Armee im Südabschnitt nicht schlagen konnten. Zudem hatte die Rote Armee militärisch mittlerweile dazugelernt und wusste aufgrund eines Zwischenfalls sogar den genauen Angriffstermin auf die Stadt. Die Deutschen erkannten dann zwar den sowjetischen Truppenaufmarsch nördlich von Stalingrad, nicht aber südlich der Stadt. General Gehlen, der Leiter der Abteilung „Fremde Heere Ost“, tappte wie so oft ahnungslos im Dunkeln. Letztlich sind die Deutschen überrascht worden. Anfangs war wahrscheinlich noch ein Ausbruch aus dem Kessel möglich, aber der wurde dann von Hitler untersagt. Dass die Niederlage am Ende so verlaufen ist, lag an den Fehlern der Deutschen und den Leistungen der Roten Armee.

Truppen der Waffen-SS-Division rücken in die südrussische Steppenlandschaft vor, Sommer 1942. | Foto: Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 101I-217-0494-34 / Geller / CC-BY-SA 3.0

„Jeder vernünftige Mensch hätte sehen müssen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war“

Hitler erließ ein Kapitulationsverbot für die 6. Armee. War das einfach nur Wahnsinn oder verfolgte er damit ein rationales Kalkül?
Beides, man muss zunächst die militärische Logik verstehen: Nachdem die Rote Armee die 6. Armee eingekesselt hatte, drohte der gesamte deutsche Südflügel an der Ostfront aus den Angeln gehoben zu werden. Mit dem Befehl zum Weiterkämpfen erkauften sich die Deutschen einige Zeit. Denn damit waren erhebliche Kräfte der Roten Armee gebunden. Die Wehrmacht konnte ihre Kräfte aus dem Kaukasus zurückziehen und im Februar/März 43 sogar die Ostfront stabilisieren. Es gab also durchaus ein militärisches Kalkül, wobei zu diskutieren ist, ob eine um etwas früher vollzogene Kapitulation der 6. Armee nicht viele Menschenleben gerettet hätte. Unzählige gingen nämlich nun völlig ausgehungert in sowjetische Gefangenschaft. Eine solche Kapitulation hätte die militärische Lage wohl auch nicht sehr verändert. Zugleich steht das Kapitulationsverbot für die NS-Ideologie. In Hitlers Vorstellung musste man bis zur letzten Patrone kämpfen und durfte keinesfalls in Gefangenschaft gehen. Ihm imponierten alle Einheiten, die bis zum letzten Mann kämpften. Deswegen mochte er auch die Marine, deren Schiffe ja oft mit Mann und Maus untergingen. Für Hitler gab es nur: Sieg oder Tod.

Sowjetische Soldaten im völlig zerstörten Zentrum von Stalingrad, Februar 1943. | Foto: Wikimedia/RIA Novosti archive, image #602161/Zelma/CC-BY-SA 3.0

Wie lernfähig war die Führung der Wehrmacht? Anders gefragt: Wurde die Niederlage nüchtern analysiert und wurden – aus rein militärischer Sicht – nachvollziehbare Schlüsse gezogen?
Nein, die Lernfähigkeit war sehr begrenzt. Man konnte die Lage schon deshalb nicht in Ruhe analysieren, weil die offensichtlichen Schlussfolgerungen nicht möglich waren: nämlich ein Ende des Krieges. Jeder vernünftige Mensch hätte sehen müssen, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war. Selbst die Idee, einen Oberbefehlshaber für die Ostfront zu berufen, der alles koordinieren sollte, wurde von Hitler abgebügelt. Er hat alles verhindert, was auf eine diplomatische Lösung hinausgelaufen wäre. Auch die eigenen Nachrichtendienste sind von ihm behindert worden. Selbst die Japaner haben die Deutschen aufgefordert, sich mit Moskau auf einen Waffenstillstand zu einigen. Für Hitler gab es nur eine Strategie: Weitermachen! Dabei glaubten selbst notorische Optimisten wie Generalfeldmarschall Erich von Manstein, allenfalls noch ein Patt an der Ostfront erkämpfen zu können. Aber was wäre damit erreicht worden? Von seinem Ordonnanz-Offizier Alexander Stahlberg soll Manstein gefragt worden sein: Aber Herr Feldmarschall, wenn wir ein Patt haben, was dann? Sollten sich dann Hitler und Stalin friedlich auf ein Unentschieden einigen? Das war alles unrealistisch.

Deutsche Gefangene bei Stalingrad auf dem Marsch ins Kriegsgefangenenlager, Februar 1943. | Foto: Wikimedia/Bundesarchiv, Bild 183-E0406-0022-010 / CC-BY-SA 3.0

Trotz der Niederlage in Stalingrad wurde in der Wehrmacht weiter der Glaube an die eigene Überlegenheit gepflegt. Wie ist das zu erklären?
Die Ideologie mag eine Rolle gespielt haben, aber viel wichtiger waren die soziale Praxis und die Erlebnisse der Soldaten. Neben den SS-Truppen sahen sich vor allem die Panzerverbände weiterhin der Roten Armee überlegen. Schließlich hatten sie auch immer wieder sowjetische Angriffe aufhalten können, selbst wenn die Front insgesamt zurückweichen musste. Ihre individuellen Erfahrungen prägten die Diskurse in der Wehrmacht. Hier zählte weniger, was Generäle der Infanterie von sich gab, sondern die Erzählungen von Panzerkommandeuren wie Hermann Balck. Und dessen Sicht war stark von der ja tatsächlich vorhandenen Überlegenheit seiner Truppen geprägt. Zugleich fehlte diesen Leuten natürlich ein Blick auf die gesamte Ostfront. Niederlagen hat man dann oft auf die Infanterie geschoben, die nicht mehr kämpfen wolle.

Welche Bedeutung hatte der Sieg für die sowjetischen Soldaten?
Es war ein sehr blutig erkaufter Sieg, aber er war psychologisch von immenser Bedeutung. Schon die Gegenoffensive vor Moskau von Dezember 41 bis Februar 42 war ein Erfolg für die Rote Armee gewesen, aber sie hatte dabei mehr Soldaten verloren als die Wehrmacht. Und ihre Angriffe waren oft noch sehr dilettantisch durchgeführt worden. Aber das änderte sich ab Sommer 42, als Stalin seine Generäle machen ließ, allen voran Georgi Schukow: Sie lernte nun rasch auch höchst komplexe Operationen durchzuführen. Die Einkesselung bei Stalingrad ist dafür nur ein Beispiel. Die Rote Armee beherrschte zunehmend den Bewegungskrieg sowie sogenannte Durchbruchsschlachten. Als sie die vermeintlich unbesiegbare Wehrmacht in Stalingrad geschlagen hatte, war das nicht nur extrem förderlich für das Selbstbewusstsein. Der Roten Armee war fortan klar: Wir können die Deutschen aus dem Land drängen. Offen war nur: zu welchem Preis?

„Stalingrad hat sich als Chiffre eines grausamen Krieges ins kollektive Gedächtnis eingefressen“

In Stalingrad verlor Stalins Armee eine halbe Millionen Soldaten. Wird dieser Toten in Russland heute angemessen gedacht? Oder wird das Gedenken instrumentalisiert?
Beim Gedenken geht es in der Regel nicht um eine differenzierte Analyse, sondern um ein bestimmtes, vorgezeichnetes Bild. Geschichte dient, gerade in Russland, zur Untermauerung des nationalen Selbstbewusstseins. Man sucht sich positive Dinge heraus, um Heldenerzählungen zu schaffen. Ziel ist die nationale Selbststabilisierung. Deshalb wird dort an solchen Gedenktagen auch nicht über dilettantische Armeeführer gesprochen, nicht über die riesigen Opfer, nicht über all die vermeintlichen Deserteure, die man an die Wand gestellt hat, und natürlich auch nicht über die zuweilen menschenverachtende Kriegsführung gegenüber den eigenen Soldaten. Nicht einmal mehr Stalin wird noch offen kritisiert. Zwar gibt es auch bei uns Themen, die weniger diskutiert werden, aber den liberalen, differenzierten Umgang mit der eigenen Geschichte, der in Russland noch in den 1990er-Jahren gepflegt wurde, den gibt es dort heute nicht mehr…

… wie jüngst am Verbotsverfahren gegen die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ deutlich wurde.
Genau, das ist das beste Beispiel.

Welche Rolle spielt Stalingrad in der Erinnerungskultur der Bundeswehr?
Im Grunde keine andere als in der Bevölkerung. Beim Krieg denken die Deutschen an Auschwitz und Stalingrad. Für Soldaten ist Stalingrad das extremste Erlebnis, das sie sich für einen Einsatz vorstellen können: Häuserkampf, Hunger, Kannibalismus, das Sterben in der Eiswüste. Stalingrad hat sich als Chiffre eines grausamen Krieges ins kollektive Gedächtnis eingefressen.

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Umfassend, gut lesbar und analytisch stark: Sönke Neitzel: „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik“. Propyläen 2020, € 35,–