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„Die Leute nicht unterschätzen“

Sprachhistoriker Helmut Weiß redet im Interview mit G/GESCHICHTE über den Streit ums Gendern und fragwürdige Ansichten des Dudens.

Helmut Weiß ist Professor am Institut für Linguistik der Universität Frankfurt. Er forscht zur Geschichte der deutschen Sprache von den Anfängen des Althochdeutschen bis zur Gegenwart. Insbesondere befasst er sich mit Sprachwandel und Dialekten. | Foto: privat

Interview: Dirk Liesemer

G/GESCHICHTE: Herr Professor Weiß, vielerorts wird fürs Gendern geworben. Statt „die Bürger“ solle man besser „die Bürger und die Bürgerinnen“ oder „die Bürger*innen“ schreiben. Ansonsten fühlten sich nicht alle Menschen angesprochen. Ist geschlechtergerechtes Deutsch eine logische Fortentwicklung unserer Sprache?
Prof. Helmut Weiß: Man kann so etwas versuchen, aber die Frage wird bleiben, ob es notwendig ist. Man sollte die Leute nicht unterschätzen. Es wird intuitiv verstanden, was gemeint ist. Im Deutschen hat jedes Nomen ein grammatisches Geschlecht, also „der“, „die“, „das“. Oft stimmt dieses mit dem biologischen Geschlecht überein wie bei „der Mann“ oder „die Frau“, dann aber auch wieder nicht, siehe „das Kind“. Und bei Wörtern, die Unbelebtes bezeichnen – der Tisch, die Schule – ergibt es keinen Sinn, von Sexus zu reden. Ich glaube nicht, dass sich der neue Sprachgebrauch, den kleine Gruppen betreiben, durchsetzen wird, schon gar nicht im Mündlichen.

Gestritten wird über das generische Maskulinum wie es in „die Bürger“ zum Ausdruck kommt. Die Mehrheit versteht, dass damit nicht nur Männer, sondern alle Menschen gemeint sind. Genau das wird nun von der feministischen Linguistik bezweifelt. Ihr zufolge haben sich historische Machtverhältnisse tief in die deutsche Grammatik eingraviert. Ist das generische Maskulinum also ein Erbe jahrhundertelanger männlicher Macht?
Solch eine These hat überhaupt keine Basis. Das generische Maskulinum gibt es, seit es die deutsche Sprache gibt. Kurz ein Vergleich mit dem Englischen: Beides sind indogermanische Sprachen, die sich aus der gleichen Quelle speisen. Während das Deutsche heute noch drei grammatische Geschlechter besitzt, kennt das Englische bei Sub­stantiven keines mehr. Doch die jeweiligen sprachlichen Entwicklungen lassen sich beim besten Willen nicht auf unterschiedliche gesellschaftliche Entwicklungen zurückführen. Und es ist auch nicht erkennbar, dass Frauen im englischen Sprachraum dadurch eine bessere Stellung erlangt hätten.

„Es kamen oft Wörter auf, die bald wieder verschwanden“

Sie sagen, das Deutsche besitze heute drei Geschlechter. War dem also nicht immer so?
Im Indogermanischen existierten nur zwei Geschlechter: eines für Unbelebtes, eines für Belebtes. Aus ersterem entstand das Neutrum, aus dem letzteren das – auch generisch verwendbare – Maskulinum. Erst später kam das Femininum auf, anfangs auch nur für Kollektivausdrücke wie „die Einwohnerschaft“ und „die Bürgerschaft“. Bereits zur Zeit des Althochdeutschen, im Frühmittelalter, wurden maskuline Nomen generisch interpretiert: Nachbar, Freund, Feind, Sünder, Pilger meinte Männer wie Frauen.

Gleichwohl gibt es von 1663 ein Verzeichnis mit Wörtern wie Teutschin, Beklagtinn, Feldhauptmännin. Es kursierten auch Heiliginn, Gläubiginn und Elbeginn, letzteres für eine Frau, die an der Elbe lebte. Waren das kuriose oder gängige Begriffe?
Es kamen oft Wörter auf, die bald wieder verschwanden. Darunter auch das vom Duden wiederbelebte „Gästin“. Es stammt aus dem Mittelhochdeutschen, wurde aber überflüssig, weil das Wort Gast eben nicht nur auf Männer bezogen wird. Der Duden folgt einer bestimmten politischen Ansicht, was völlig verfehlt ist. Bezeichnungen wie Einwohner, Zeugen und viele andere sind eindeutig indifferent bezüglich des Sexus-Merkmals.

Sie betonen die Wortbedeutung. Die Kritiker des generischen Maskulinums verweisen hingegen auf die Assoziationen, die ein Wort im Kopf auslöst. Studien zufolge denken nicht wenige, wenn sie etwa „die Lehrer“ lesen, zuerst an männliche Lehrer, ehe ihnen auch eine Lehrerin in den Sinn kommt.
Assoziationen und Wortbedeutungen sind jedoch nicht dasselbe. Assoziationen sind individuell, von Erfahrungen geprägt, oder historisch geformt, während Bedeutungen unabhängig davon sind. Was jemand zum Beispiel mit dem Wort „Hund“ assoziiert, ist für die Bedeutung des Wortes irrelevant. Übersehen wird zudem, dass das grammatische Geschlecht im Plural ohnehin neutralisiert ist – aufgrund des einheitlichen Artikels „die“: die Männer, die Frauen, die Kinder. Im Althochdeutschen war das noch anders: Damals wurde auch im Plural unterschieden, ehe eine Abschleifung einsetzte.

 

 

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