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Zeitgeschichte

Archäologie der Moderne

Archäologen erforschen neuerdings die letzten Jahrzehnte. Professor Ulrich Müller von der Universität Kiel verrät, was es damit auf sich hat.

Verrostete Kronkorken

Kronkorken statt Keramik: Archäologische Fundstücke aus dem Kiel der 2000er-Jahre | © Inst. f. Ur- und Frühgeschichte Universität Kiel/Katja Grüneberg-Wehner

Herr Müller, Sie erforschen Eisenbahntunnel, Kollegen graben in KZ-Lagern und Protestcamps. Ist das noch Archäologie?

Auf jeden Fall. In Deutschland ist eine Archäologie der Moderne nur bisher ungewohnt.

Was unterscheidet diese von herkömmlicher Archäologie?

Die Archäologie der Moderne deckt speziell das 19., 20. und 21. Jahrhundert ab. Sie arbeitet auch mit archäologischen Methoden, wie etwa Ausgrabungen. Aber sie muss zusätzlich Texte, Fotos, Videos auswerten. Zeitzeugengespräche spielen eine wichtige Rolle.

„Politisch und ethisch sehr anspruchsvoll“

Also eine Art Archäologie Plus?

Genau. Aber nicht, weil sie besser wäre, sondern weil sie über mehr Quellen verfügt. Das macht sie zugleich politisch und ethisch sehr anspruchsvoll.

Was meinen Sie damit?

Ergebnisse aus der Steinzeitforschung etwa kritisiert kaum jemand. Bei Archäologie zum 20. Jahrhundert ist das anders: Da mischen auch Historiker, Politiker, Interessenträger mit.

 

Neuzeitarchäologe Ulrich Müller | © privat

 

Was kann der Archäologe dabei besser als der Historiker?

Er kann gut neutralere Geschichte erschließen. Personen, Texte, Filme: Werkzeuge des Historikers zeigen oft eine subjektive Realitätsebene.

Wie ist das zu verstehen?

Nehmen wir das Protestcamp: Ein Zeitzeuge sagt, die Zelte standen im Karree; die Ausgrabung zeigt, sie standen kreuz und quer. Das sind vielleicht Kleinigkeiten. Sie zeigen aber, wie Erinnerung trüben kann. Der Archäologe kann Geschichte zu einem gewissen Grad objektivieren. Er kann Fundstücke mit ihren Biografien verbinden.

„Der Archäologe kann Geschichte zu einem gewissen Grad objektivieren“

Nehmen Sie mit Ausgrabungen in der Zeitgeschichte nicht künftigen Archäologen die Arbeit weg?

Nein. Archäologen werden immer was zu forschen haben, denn die Gesellschaft entwickelt sich immer weiter. Dinge wie das Wählscheibentelefon zum Beispiel kennen Jugendliche heute oft gar nicht mehr.

Wie sind die Aussichten für diese junge Disziplin?

Sie etabliert sich, aber sie muss neue Themen erschließen. Innerdeutsche Grenze, Protestcamps, KZs – das verkauft sich gut. Aber Moderne ist nicht nur Tatort. Was ist mit Resten des Wirtschaftswunders? Kann man gar die 50er-Jahre-Familie unterm Tannenbaum nachweisen?

Das Interview führte Sebastian Kirschner

zuletzt geändert: 20.02.2018