Die Arbeitervereine wählten Ferdinand Lassalle im 19. Jahrhundert zum Anführer und feierten ihn. Dann starb im Duell mit einem Aristokraten – doch ging es dabei nicht um die Arbeiterbewegung, sondern um eine Frau.
150 Jahre ist es her, dass ihn die Abgesandten der deutschen Arbeitervereine frenetisch feierten und zu ihrem Vorsitzenden wählten. 15 Monate später steht der „Erwecker der deutschen Arbeiterbewegung“ in einem Schweizer Wald mit der Pistole in der Hand einem Aristokraten gegenüber. Nicht etwa, um für den Sieg des Proletariats zu kämpfen, sondern, wie bourgeois, wegen einer Liebesaffäre.
Eigentlich hat Lassalle ja gehofft, seine Waffe auf den bayerischen Gesandten in Genf zu richten, auf Wilhelm von Dönniges. Dessen schöne Tochter Helene hatte das Herz des leicht entflammbaren Lassalle gewonnen, doch der Papa wollte von einem Schreiberling, Arbeiterfreund und Juden nichts wissen. Außerdem hatte er für Helene längst einen standesgemäßen Bräutigam gefunden, den Edelmann Janko von Racowicza. Es kommt zum Streit, zu Beleidigungen, Lassalle fordert den unwilligen Schwiegervater zum Duell. Doch der Herr Gesandte kneift, schickt den Schwiegersohn seiner Wahl in den Zweikampf.
So stehen sich am Morgen des 28. August 1864 im Wald von Carouge Lassalle und Racowicza gegenüber. Ist es der „falsche“ Gegner, der Lassalle zögern, vielleicht bewusst daneben schießen lässt? Racowicza dagegen schießt schnell und genau. Er trifft Lassalle im Unterleib, inoperabel, tödlich. Am 31. August ist der erste Präsident des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins tot.
Lassalle wollte schon früh die Welt verändern
Geboren wurde Ferdinand Lassalle am 11. April 1825 in Breslau als Sohn eines weltoffenen jüdischen Seidenhändlers. Im humanistischen Gymnasium faszinieren ihn die Werke der antiken Dichter und Denker ebenso wie die moderne Literatur eines Heinrich Heine. Früh macht er seinem Vater klar, dass er kein „Ladenschwengel“ werden wolle. Verändern möchte er die Welt, als Philosoph und Wissenschaftler, vielleicht als Politiker, am liebsten als Dichter. Er studiert in Breslau und Berlin, später in Düsseldorf und Paris Philologie und Philosophie. Er glaubt, dass es die Ideen sind, die den Lauf der Dinge bestimmen. Die ganze Geschichte wird für ihn geprägt von der Idee der Freiheit, die sich Schritt für Schritt in den Menschheitsepochen verkörpert. Fortschritt entsteht dann, wenn geeignete Führer diese Idee verstehen und die Massen dazu anleiten, eine revolutionäre Veränderung umzusetzen, ob mit oder ohne Gewalt. Den Materialismus eines Ludwig Feuerbach oder Karl Marx lehnt er ab. Und ganz im Gegensatz zu Letzterem schreibt er dem Staat eine wichtige Aufgabe zu, nämlich „die Entwicklung des Menschengeschlechtes zur Freiheit zu vollbringen“.
Keine 20 Jahre alt beginnt er über Leben und Denken des griechischen Philosophen Heraklit zu forschen; es wird zu seiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe. Dennoch beschäftigt das Lassalle nur am Rande, er brilliert in Salons und Seminaren mit seiner Intellektualität und Geistesschärfe in praktisch allen politischen und wissenschaftlichen Fragen. Alexander von Humboldt nennt ihn ein Wunderkind, und sein Freund Heinrich Heine sagt, er kenne niemanden, der in seinem Handeln so viel Leidenschaft mit Verstandesklarheit vereine. Aber dieser Lassalle ist auch ein schöner Mann mit tiefblauen Augen unter dem schwarzen Lockenkopf, ein Frauenschwarm und Frauenversteher.
Berühmt wurde er als Anwalt einer betrogenen Frau
Eine Frau wird für ihn besonders wichtig, die faszinierende und geistreiche 20 Jahre ältere Sophie Gräfin Hatzfeldt. Von ihrem Mann, einem ebenso reichen wie dünkelhaften Fürsten, betrogen, verstoßen und in Armut gestürzt, will ihr Lassalle helfen. Er beginnt ein Jurastudium und vertritt sie als Anwalt gut acht Jahre lang vor insgesamt 36 Gerichten. Am Ende gewinnt er, und er wird durch diese Prozessorgie in ganz Deutschland bekannt. Das Honorar und die dankbare Gräfin sorgen dafür, dass er von nun an ein luxuriöses Leben führen kann. Was er denn auch tut.
Wichtiger als alles andere aber wird ihm die Politik. Als 23-jähriger ist Lassalle einer der Führer der 1848er-Bewegung in Düsseldorf, er agitiert für mehr soziale und demokratische Rechte. Als er im November 1848 zur Steuerverweigerung und zur Bewaffnung der Bürger aufruft, wird er verhaftet und verbringt fast ein Jahr im Gefängnis. Mit dem Bund der Kommunisten arbeitet er zu sammen, wird aber nicht Mitglied. Lange hält er Kontakt zu Karl Marx, obwohl sich das Verhältnis politisch wie persönlich zunehmend verschlechtert.
Die Arbeiterbewegung fand in Lassalle einen starken Fürsprecher
Nach dem Scheitern der Revolution hofft Lassalle auf eine neue Chance zur Veränderung der Gesellschaft. Dabei sucht er neue Bundesgenossen, denn das liberale Bürgertum ist für ihn gescheitert, es lässt sich allzu leicht durch Versprechungen des konservativen Adels korrumpieren. Anders die Arbeiterschaft, in der Lassalle freilich nicht nur wie Marx das Industrieproletariat sieht. Für ihn sind „Arbeiter“ all die, die in Handwerksstuben, Heimbetrieben und Fabriken um Lohn und Existenz kämpfen. In vielen Städten haben sie sich in Volksvereinen, Bildungs- und Sportklubs, Hilfskassen, Lesezirkeln oder Arbeiterverbänden organisiert, die in loser Verbindung stehen. All dies wird von staatlichen Stellen argwöhnisch bespitzelt, vor allem nach einer Streikwelle im Jahr 1857. Auch die entstehenden bürgerlichen Parteien werden auf diese Arbeiterbewegung aufmerksam, wollen sie aber gängeln und ihr nicht die gleichen Rechte zugestehen. In dieser Situation findet Lassalle die Arbeiterbewegung – oder die Arbeiterbewegung findet Lassalle.
Anfang 1863 bitten ihn Mitglieder des Leipziger Arbeiterbildungsvereins um Hilfe und er sagt zu – unter der Bedingung, dass die Arbeitervereine eine klare politische Ausrichtung erhalten, sich als eine Partei zur Durchsetzung der Rechte der Unterprivilegierten verstehen. Unter diesen Prämissen wird am 23. Mai 1863 der „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ (ADAV) gegründet, Lassalle wird dessen erster Präsident. Seine Popularität verdankt er vor allem einer später als „Arbeiterprogramm“ bezeichneten Broschüre, in der er seine Reden unter dem Titel „Über den besonderen Zusammenhang der gegenwärtigen Geschichtsperiode mit der Idee des Arbeiterstandes“ zusammenfasst: Die unteren Klassen, die er alle als Arbeiter bezeichnet, sieht er als Treibkraft des Fortschritts. Adel und Bourgeoisie seien durch Grundbesitz und Anhäufung von Kapital moralisch verdorben und nur von ihren eigenen Interessen bestimmt. Die Arbeiter dagegen hätten keinen Besitz und Privilegien zu verlieren, ihr Leben sei nicht von Gegeneinander und Konkurrenz, sondern von Miteinander und Solidarität geprägt. Ihr Kampf sei daher untrennbar „mit der Entwicklung des gesamten Volkes, mit den Fortschritten der Kultur, mit dem Lebensprinzip der Geschichte selbst, welches nichts anderes als die Entwicklung der Freiheit ist“, verbunden.
Lassalle kämpfte für ein faires Wahlrecht
Deshalb müssten sich die Arbeiter zu einer eigenständigen Partei zusammenschließen. Im Programm des Arbeitervereins steht deshalb der Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht im Mittelpunkt. Das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht – so formuliert Lassalle – müsse zum „prinzipiellen Losungswort und Banner der Arbeiter werden“. Die wichtigste soziale Forderung ist die Errichtung von Produktivgenossenschaften. Dahinter steht Lassalles „Ehernes Lohngesetz“, nach dem im Kapitalismus der Lohn immer nur das Minimum dessen betrage, was die Arbeiter zur Erhaltung ihres Lebens benötigen.
Lassalle ist freilich kein Demokrat im heutigen Sinne. Er glaubt – wie auch die französischen Jakobiner –, dass das Volk durch direkte Wahl vertrauten Personen, ja sogar einem Einzelnen Macht und Mandat übergeben könne. Und nach seiner nicht unbescheidenen Selbsteinschätzung hat er sowohl die Einsicht in den Gang der Geschichte wie auch den Überblick über die politischen Niederungen, was ihn zu einem, wenn nicht dem geeigneten Arbeiterführer macht, zu einem „Bonaparte“ des Proletariats. Ob diese Zuversicht der Realität standgehalten hätte, kann Ferdinand Lassalle nicht mehr beweisen.
Bürgerliche Werte trieben ihn in einen „bourgeoisen Tod“
Eine unglückliche Liebe und seine doch der Bourgeoisie verhafteten Wertvorstellungen kommen auf tragische Weise dazwischen. Der Tod ihres Präsidenten trifft die junge Sozialdemokratie unerwartet. Einige seiner Anhänger wittern hinter dem Geschehen in Genf eine Verschwörung, seine Gegner in der Arbeiterbewegung erklären – hinter vorgehaltener Hand –, sein Tod sei so bourgeois wie sein Leben gewesen. Der junge Schlosser Jakob Audorf dichtet für seine 1864 geschriebene „Arbeitermarseillaise“ für die Trauerfeierlichkeiten einen neuen Refrain:
Nicht zählen wir den Feind,
Nicht die Gefahren all‘,
Der Bahn, der kühnen, folgen wir,
Die uns geführt Lassalle.
Bis zum Beginn der Weimarer Republik enden alle Parteitage der aus dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein hervorgegangenen SPD mit diesem Lied.
Hans-Peter von Peschke
Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 5/2013 „Befreiungskriege“
Zuletzt geändert: 06.10.2016