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Zeitzeichen: 23. August 1973

Wenn die Polizei als wahrer Feind gilt

Beim Stockholm-Syndrom sympathisieren die Geiseln mit den Tätern. Der Begriff stammt von einem dramatischen Banküberfall vor 50 Jahren.

von Michael Feldhoff

Sechstägiges Geiseldrama: Ein Scharfschütze der Polizei nimmt die Bank ins Visier. | Bild: Getty Images/AFP/Roland Jansson

Stockholm im August 1973. Janne Olsson, ein Gefangener auf Freigang, überfällt mit einer Maschinenpistole eine Bank in der Innenstadt, nimmt vier Bankangestellte als Geiseln, fordert drei Millionen schwedische Kronen, ein Fluchtauto und die Freilassung seines Knastkumpels Clark Oloffson. Die Medien sind live dabei, als die Polizei versucht, die Geiselnahme zu beenden. Olsson und der inzwischen freigelassene Oloffson sind dadurch gut informiert. Als die Polizei Betäubungsgas in den Tresorraum leiten will, legen sie den Geiseln Schlingen um den Hals, sodass diese sich bei Bewusstseinsverlust erhängen würden.

Die Geiseln verteidigen die Täter

Die vier Geiseln. Die Bankangestellten binden sich emotional an ihre Peiniger. | Bild: Getty Images/Bettmann

Als die Polizei am sechsten Tag trotzdem ihr Vorhaben umsetzt, ergeben sich die Kriminellen unerwartet. Die Geiseln bleiben unversehrt und weigern sich anfangs sogar, als erste aus dem Tresorraum zu gehen – aus Angst, dass ihre Geiselnehmer erschossen werden. Sie haben sich mit diesen solidarisiert, empfinden das aggressive Vorgehen der Polizei schlimmer als ihre eigene Situation. Später verteidigen sie die Motive der Täter, haben regelmäßigen Kontakt zu ihnen. Ein Polizeipsychologe gibt dem Verhalten den Namen Stockholm-Syndrom. Gegenstück wird später das Lima-Syndrom nach dem Überfall auf die japanische Botschaft in Lima 1996, bei der die Geiselnehmer Sympathie mit ihren Geiseln entwickeln.