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Wer nicht deichen will, muss weichen

Sturmfluten

Immer wieder suchen verheerende Sturmfluten die Nordseeküste heim. Oft trafen sie die Menschen völlig unvorbereitet.

Naturgewalt: Eine Sturmflut trifft auf die Küste der Nordsee. | © istockphoto.com/Abzee

Eine der größten Katastrophen, die sich tief ins kollektive Gedächtnis der Küstenbewohner eingrub, war die Burchardi-Flut von 1634. Mit ungewohnter Wucht trafen in der Nacht vom 11. auf den 12. Oktober die von einem Orkan angepeitschten Wassermassen auf die nordfriesische Inselwelt und die schleswig-holsteinische Westküste. Der sogenannte „Blanke Hans“ hielt grausame Ernte: Zwei Drittel der Insel Alt-Nordstrand versanken im Meer, 6000 namentlich bekannte Einwohner ertranken, 1300 Häuser, 18 Kirchen und 28 Mühlen wurden zerstört, 50 000 Stück Vieh wurden ein Opfer der Fluten. Von der einst 250 Quadratkilometer großen Insel blieben nur die wesentlich kleineren Inseln Nordstrand und Pellworm sowie die Halligen Südfall und Nordstrandischmoor übrig. „Gott der Herr ließ donnern, regnen, hageln, blitzen und den Wind so kräftig wehen, dass die Grundfesten der Erde sich bewegten“, schrieb der zeitgenössische Chronist Peter Sax aus Eiderstedt über das Unglück.

Dabei traf die Katastrophe wie schon oft die Menschen völlig unvorbereitet. Noch kurz vor der Flut hatten sie milde, sonnige Herbsttage genossen. Am 11. Oktober setzte gegen Mittag Regen ein, der wie der von Südwest kommende Wind jedoch nichts Ungewöhnliches war. Doch dann drehte der Wind plötzlich nach Nordwest und steigerte sich gegen Abend zum Orkan und drückte die Meeresfluten senkrecht gegen die Deiche. Der niederländische Wasserbauingenieur Jan Adriaan Leeghwater berichtet: „Der Wind drehte sich ein wenig nach Nordwesten und wehte platt gegen das Herrenhaus, so hart und steif, wie ich’s in meinem Leben nicht gesehen habe. An einer starken Tür, die an der Westseite stand, sprangen die Riegel aus dem Pfosten von den Meereswogen, sodass das Wasser das Feuer auslöschte und so hoch auf den Flur kam, dass es über meine Kniestiefel hinweglief.“ Dabei hatte Leeghwater, der sich von seiner Unterkunft in ein höher gelegenes Herrenhaus flüchten konnte, noch Glück: Er überlebte zusammen mit 20 weiteren Geflüchteten die Tragödie.

Für viele kam jede Hilfe zu spät

Für viele andere, die von der Flut mitten in der Nacht überrascht wurden, kam jede Hilfe zu spät. Die Deiche brachen ab zehn Uhr abends reihenweise ein, allein auf Nordstrand 44. Zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens erreichten die ungehindert aufs Land strömenden Wassermassen ihren Höchststand – etwa vier Meter über dem mittleren Tidehochwasser – und rissen die Gebäude wie Kartenhäuser weg. Als einziger Fluchtweg blieb den Menschen der Weg aufs Dach, doch selbst dort waren sie nicht sicher. Die Flut spülte auch die Reetdächer weg. Die Opferzahlen dürften ferner weit höher liegen, als die aus Nordstrand bekannten 6000 Menschen. Da sich viele nicht registrierte Erntehelfer auf der Insel befanden und auch Eiderstedt, Dithmarschen und die Marschgebiete an der Küste von der Jahrhundertflut betroffen waren, schätzt man heute die Opferzahl zwischen 9000 und 15 000 ein. „Ich bin auch den Strand allda geritten, da hab ich wunderliche Dinge gesehen, viele verschiedene tote Tiere, Balken von Häusern, zertrümmerte Wagen und eine ganze Menge Holz, Heu, Stroh und Stoppeln. Auch habe ich dabei so manche Menschen gesehen, die ertrunken waren“, so Leeghwater.

Die Burchardi-Flut war mit Sicherheit ein Jahrhundertereignis, doch war sie nicht die erste Flutwelle biblischen Ausmaßes, von der die Quellen zu berichten wissen. Seit dem Hochmittelalter verzeichnen die Annalen und Chroniken eine Reihe von schweren Sturmfluten an der Nordseeküste, die man sich nur mit dem Zorn Gottes, der die Menschen für ihre Sünden bestrafe, erklären konnte.

Außergewöhnlich: Die erste Marcellus-Flut von 1219

Als außergewöhnliches Ereignis ragt die erste Marcellus-Flut vom 16. Januar 1219 hervor. Nach dem Bericht des Abtes Emo von Wittewierum begann das Unwetter zunächst mit Hagel und Sturmwind aus Südwest. Nachts drehte der Wind auf Nordwest, trieb das Meer zur Küste hin und überraschte die Bewohner dort zur Schlafenszeit. Tausende Menschen wurden von der mächtigen Flut, die vor allem Westfriesland verwüstete, in den Tod gerissen. „Oh, welch Schmerz und Trauer, die Menschen in den Fluten wie Meerestiere hin- und hergeworfen, die Elenden auf einigen zusammengefügten und untergelegten Pfählen oder Heu und Stroh, von der Gewalt des Meeres gezogen, ohne Schiff herumschwimmen zu sehen. In dieser Sintflut kamen Tausende Männer, Frauen und Kinder um und die Kirchen wurden zerstört.“

Tief ins Gedächtnis prägte sich auch die sogenannte zweite Marcellus-Flut vom 16. Januar 1362 ein, die die Stadt Rungholt verschlang und von den Chronisten als „Grote Mandränke“, als Großes Ertrinken mit etwa 10 000 Toten, bezeichnet wurde. Über die Ursachen der Katastrophen konnten die Menschen damals nur spekulieren. Sie glaubten an ein Strafgericht Gottes ob ihrer Sünden. Anton Heimreich machte die Menschen in seiner 1666 erschienenen „Nordfriesischen Chronik“ für ihr Unglück selbst verantwortlich. Die „Hauptursache dieses Elends“ sei „die übermachte Sünde und Bosheit der Einwohner“ gewesen, schrieb er. Die von „Gott verliehenen Güter“ hätten sie zu „Hoffahrt, Üppigkeit und andern Sünden missbrauchet“. Vor allem aber hätten sie durch ihren übertriebenen Deichbau die Natur herausgefordert. So habe der Deichgraf von Risummohr nach vollendeter Arbeit den Spaten auf den Deich gesetzt und die Nordsee mit den Worten herausgefordert: „Trotz nun, blanker Hans!“ Der kecke Übermut der Menschen soll so Ursache für den Rückschlag der Natur gewesen sein.

Deiche: Ein Eingriff in die Natur mit Nebenwirkungen

Ganz falsch waren solche Deutungsversuche nicht. Denn obwohl die seit dem 14. Jahrhundert einsetzende schleichende Klimaveränderung, die allmählich zur Kleinen Eiszeit führte, extreme Wetterphänomene begünstigte, waren hausgemachte Probleme mitverantwortlich für die Katastrophen. Schon früh siedelten Menschen in den fruchtbaren, aber nur wenige Meter über dem Meeresspiegel liegenden Marschen und errichteten ihre Häuser und Dörfer auf künstlich aufgeworfenen Hügeln, den Wurten oder Warften, um sie vor der Flut zu schützen. Seit dem späten 11. Jahrhundert versuchten die Bewohner, mit der Anlage von Ringdeichen nicht nur ihre Siedlungsplätze, sondern auch die außerhalb liegenden Äcker und das Vieh zu schützen. Gleichzeitig rang man dem Meer durch die Anlage von Deichen und Entwässerungsgräben immer weiteres landwirtschaftlich nutzbares Land ab. Doch dieser Eingriff in die Natur zeigte Nebenwirkungen: Je geschlossener und höher die Deichlinie ausfiel, umso höher warf sich die Sturmflut im Verhältnis zum eigentlichen Meeresspiegel an ihr auf. Die Wassermassen konnten sich nicht mehr so breitflächig über das Land verteilen wie vor dem Deichbau, sondern stauten sich. Der Abbau von Salztorf tat sein Übriges: Er bescherte den Küstenbewohnern zwar gute Einnahmen und machte Rungholt zu einem wohlhabenden Handelsplatz, ließ das Land aber gemessen am Meeresspiegel weiter absacken. Wenn die Deiche nicht hielten, füllten sich die niedriger gelegenen Flächen wie Tümpel, aus denen das Wasser nicht mehr ablaufen konnte.

Der Insel Alt-Nordstrand wurde zum Verhängnis, dass ihre Hochmoorfläche durch Entwässerung zwar urbar gemacht worden war, dadurch aber abgesunken war. Dies konnte nur gutgehen, solange die Deiche hielten. Doch ausgerechnet den Deichbau hatten die Bewohner stark vernachlässigt. Kriege, Hungersnöte und Streitigkeiten um die Kosten der Instandhaltung hatten eine sorgsame Pflege verhindert. So nahm das Unglück seinen Lauf: Die Wassermassen strömten ungehindert an Land. Der Wettlauf zwischen Meer und Mensch endete nur allzu häufig mit dem Sieg der Natur.

Karin Schneider-Ferber

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 6/2014 „Katastrophen, die das Denken veränderten“

Zuletzt geändert: 14.9.2017