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Die Auferstehung des Dimitrij

Wie die Romanows auf den Zarenthron kamen

An der Wende zum 17. Jahrhundert steckt der russische Staat tief in der Krise. Das Machtvakuum nach dem Tod Iwans IV. kann nur schwer gefüllt werden. Das hungernde Volk setzt seine Hoffnung auf einen angeblichen Zarewitsch und am Ende steht der
Beginn einer neuen Dynastie – der Romanows.

Blick auf den Kreml in Moskau (1898)

Der Kreml ist der älteste Teil der russischen Hauptstadt. Hier residierten Großfürsten, Zaren und sowjetische Machthaber. Die Aufnahme zeigt den Kreml 1898 von der Moskwa aus gesehen.  | © Rijksmuseum Amsterdam

Die Glocken des Kreml läuten. Tausende Menschen säumen die Straßen Moskaus. Wie Bienenschwärme drängen sie sich auf den Dächern und auf den Kirchtürmen. Die Massen sind gekommen, um einem jungen Mann zuzujubeln, in den sie ihre ganze Hoffnung setzen. Die Hoffnung, dass alles besser wird, wenn er als rechtmäßiger Erbe auf dem Zarenthron sitzt.

Der Emporkömmling

Rückblick: Nach dem Tod Iwans »des Schrecklichen« im Jahr 1584 wird sein Sohn Fjodor Iwanowitsch Zar. Doch Fjodor ist nicht regierungsfähig. An seiner Stelle setzt sich Boris Godunow, sein Schwager, als Regent durch. Er – nicht Fjodor – ist der mächtigste Mann Russlands. Nach dem Tod Fjodors wählt ihn die Landesversammlung Zemskij Sobor 1598 zum Zaren. Godunow ist, anders als später vielfach behauptet, kein übermäßig schlechter Herrscher. Ihm gelingt es, für ein gewisses Maß an Stabilität zu sorgen.

Zar Boris hat vor allem ein Imageproblem. Er ist ein Emporkömmling, der während der Op­ric­nina Karriere machte. Das macht ihn bei den Bojaren nicht gerade beliebt.Und das Volk? Das hungert. Eine Masse Entwurzelter durchstreift das Land. Der Hunger nährt ihren Widerstand. Für ihre Misere machen sie Godunow verantwortlich, denn in ihren Augen war er kein Zar von „Gottes Gnaden“.

Der Hoffnungsträger

Die Herrschaft von Zar Boris gerät ernsthaft in Gefahr, als Gerüchte die Runde machen, der Zarewitsch Dimitrij, der jüngste Sohn Iwans „des Schrecklichen“, sei nicht tot. Eigentlich soll sich der Zarewitsch bereits im Kindesalter während eines epileptischen Anfalls selbst erdolcht haben. Angeblich war Boris Godunow daran nicht ganz unschuldig. Jetzt taucht ein junger Mann auf und behauptet, Dimitrij zu sein, der auf wundersame Weise überlebt habe. Die quasi-religiöse Unterstützung der Massen ist ihm sicher, ebenso die Hilfe des polnischen Königs Sigismund III., der seinen Einfluss und sein Territorium ausbauen will. Aber auch die Bojaren hoffen, in seinem Fahrwasser wieder mehr Macht zu gewinnen.

Wer aber ist Dimitrij? Ein häufig genannter Name ist Grigorij Optrep’ev. Ein angeblich entlaufener Mönch aus dem Klientel der Romanows, von dem die gegen ihn gerichtete Propaganda behauptet, er sei eine Marionette Polens. Tatsächlich agiert der »Pseudodemitrius« von Polen aus, tritt zum Katholizismus über und heiratet die Tochter eines polnischen Adligen. Dimitrij spielt seine Rolle gut. Er wird zur Symbolfigur der Rebellion. Mit rund 15 000 Mann zieht er 1604 gegen Moskau, erringt erste militärische Erfolge. Doch eine direkte Konfrontation mit Zar Boris fällt aus, denn dieser stirbt am 23. April 1605 an einem Blutsturz. Nun muss sich sein Sohn Fjodor mit den Problemen des Vaters herumschlagen, ohne jedoch über dessen politisches Talent zu verfügen. Der junge Zar fällt dann auch ziemlich bald einer Verschwörung zum Opfer.

Zehn Tage nach seiner Ermordung läuten die Glocken des Kreml und die Menschen drängen sich in den Straßen. Womit wir wieder am Anfang wären: Denn es ist Dimitrij, der unter dem Jubel der Menge in Moskau einzieht und zum Zaren gekrönt wird. Ungeachtet der berechtigten Zweifel an seiner Herkunft, bestätigt Fürst Wassilij Schuskij, einer der mächtigsten Bojaren, dass Dimitrij echt sei. Wohlgemerkt jener Fürst Schuskij, der als Leiter der Untersuchungskommission den Tod des Zarensohns feststellte.
Dimitrij regiert für russische Verhältnisse unkonventionell, war er doch nicht in den klaustrophobischen Verhältnissen des Zarenhofs aufgewachsen. Er widersetzt sich den prächtigen Zeremonien und stundenlangen orthodoxen Riten, umgibt sich lieber mit gebildeten Höflingen als mit den mächtigen Bojarenclans. Aber ein von Bojaren inszenierter Aufstand kostet Dimitrij dann auch das Leben. Er regierte nicht einmal ein Jahr.

Der Bojar

Die Karten werden neu gemischt. Es ist Schuskij, der die Gunst der Stunde nutzt und sich zum Zaren ausrufen lässt. Zur Ruhe kommt Russland deshalb nicht. Soziale Wirren, Pest und Hungersnöte sind Gift für die Regierung des Zaren. Zudem geht noch immer das Gerücht um, Dimitrij sei auch jetzt nicht tot. Unter der Führung des Kosaken Iwan Bolotnikow begehren die Bauern und Kosaken auf, führen einen regelrechten Feldzug. Der »Bojarenzar« Wassilij lässt die Revolte blutig niederschlagen, aber die Unruhen gehen weiter. Während dieser Zeit taucht ein zweiter falscher Dimitrij auf, der das Schicksal seines Vorgängers teilt und ermordet wird.

Der König

Wassilij weiß sich nicht anders zu helfen, als Schweden um Hilfe zu rufen. Doch auch die polnischen Nachbarn fackeln nicht lange und greifen in den Krieg ein. Ihre Intervention kostet Zar Wassilij den Thron. 1610 wird er abgesetzt und zum Mönch geschoren. Der Höhepunkt der Smuta (russisch: „Zeit der Wirren“) scheint erreicht. Um die Anarchie zu beenden, wählt die Zemskij Sobor den Sohn des polnischen Königs Sigismund, Wladislaw, zum Zaren – unter der Bedingung, dass er zum orthodoxen Glauben übertritt.

Doch nun erhebt Sigismund selbst Anspruch auf die Krone. Für den katholischen Herrscher Polens ist eine Konversion allerdings unmöglich. Auf der russischen Seite ist ein nicht rechtgläubiger Zar jedoch ebenso undenkbar. Sigismund lässt eine Militärdiktatur errichten. Erst gegen den äußeren Feind gelingt, was so lange unvorstellbar war: Bojaren, Dienstadel, Bauern und Kosaken schließen sich zusammen. In bemerkenswert kurzer Zeit gelingt es, das Chaos zu beenden.

Der Romanow

Aber wer kann das verwundete Land regieren? Nicht-Russen oder Bojaren kommen nach den Wirren nicht mehr in Frage. Am 21. Februar 1613 entscheidet sich eine Versammlung von Städten, höchster Verwaltung, Geistlichkeit, Dienstadligen und Kosaken für den 16-jährigen Michail Fjodorowitsch Romanow. Der neue Zar ist der Sohn von Fjodor Nikititsch Romanow, der von Boris Godunow abserviert und ins Kloster verbannt wurde. Es ist der Anfang einer neuen Dynastie. Michail regiert über 30 Jahre. Ihm folgen Alexei I., Fjodor III., Sofia Alexejewna und Iwan V., bevor ein Mann den Zarenthron besteigt, der durch seine Reformbemühungen eine neue Ära einläutet.

Christine Richter

Der Artikel erschien erstmals in G/GESCHICHTE 12/2012 „Die Zaren“.

Zuletzt geändert: 12.2.2019