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„Überall in Russland gilt das Gesetz des Stärkeren“

Der Tod des Kremlkritikers Alexej Nawalny wirft Fragen auf. Die langjährige Moskau-Korrespondentin Sabine Adler schildert im Gespräch mit G/GESCHICHTE, wie das Land zum Mafiastaat wurde.

Interview: Dirk Liesemer

Sabine Adler ist Ost­europa-Expertin des Deutschlandfunks. Sie war viele Jahre lang Korrespondentin in Moskau, später in Warschau mit Schwerpunkt Polen, Weißrussland, baltische Länder und Ukraine. Heute befasst sie sich von Berlin aus vor allem mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Für ihre Arbeit wurde sie als „Politikjournalistin des Jahres“ ausgezeichnet. Ihr Buch „Die Ukraine und wir“ (2022) war ein Spiegel-Bestseller. Nun erscheint ihr neues Werk „Was wird aus Russland?“ (Lesetipp unten). | Bild: Natascha Zivadinovic

G/GESCHICHTE: Frau Adler, im März wird Putin erneut als Präsident kandidieren und sicherlich im Amt bestätigt werden. Aber wie viel Wahlfälschung wird dafür nötig sein?
Sabine Adler: Nicht viel, denke ich. Man muss sich nur anschauen, wie hoch nach wie vor die Zustimmung für ihn ist. Es sind zwar nicht alle Leute zufrieden damit, wie sich Russland entwickelt, aber Putin prägt seit gut zwei Jahrzehnten das Meinungsbild. In einer seiner ersten Amtshandlungen hat er die Presse gleichgeschaltet und die oppositionellen Medien verdrängt. Von Anfang an operiert er mit Geschichtsfälschungen, früh deutete er etwa die Sicht auf den Afghanistankrieg um. Den hatte zwar die Sowjetunion verloren, aber nun hieß es, es sei der erste Versuch gewesen, gegen eine islamistische Gefahr vorzugehen.
So sehr beherrscht Putin die öffentliche Meinung, dass heute ungefähr 30 Prozent der Menschen seiner Politik absolut zustimmen, während nur 15 bis 20 Prozent diese ablehnen. Und dann gibt es noch einen großen Block in der Mitte von etwa 40 Prozent, der sich nicht positionieren will. Aber weil er nicht seine Stimme erhebt, wird er vom Kreml als Unterstützer vereinnahmt. So kommt das Regime auf eine scheinbare Rückendeckung von 60 bis 70 Prozent, wenngleich es aus vollem Herzen eher nur 30 Prozent sind. Diese Zahlen stammen von Lew Gudkow, dem Forschungsdirektor des nach wie vor unabhängigen Umfrageinstituts Lewada.

Putin selbst sprach früh von einer „gelenkten Demokratie“, andere sehen in Russland einen mafiösen oder gar faschistischen Staat. Was ist Russland für ein Gebilde?
Seine Rede von der „gelenkten Demokratie“ war eine Absage an die Demokratie. Lieber hat er von einer „Vertikale der Macht“ geredet und diese dann auch durchgesetzt: Sprich, die Spitze bestimmt, was die Gesellschaft tut. Dazu hat er die demokratischen Institutionen ausgehöhlt und die Opposition mit bürokratischen Vorgaben ausgeschaltet.
Seit seinem Amtsantritt haben die Menschen in Russland weder bei der Parlaments- noch bei der Präsidentenwahl eine Wahlfreiheit. Die beiden Herausforderer, die jetzt im März überhaupt antreten dürfen, muss man erst googeln, um etwas über sie zu erfahren.
Kurz nach seiner Machtübernahme haben Putins Freunde aus Petersburger- und Geheimdienst-Zeiten sich die Medien, Ölkonzerne und viele Großunternehmen gegriffen. Keiner hat selbst eines aufgebaut. Und diese Unternehmen sind jetzt Werkzeuge seiner Politik der Aufrüstung, der Kriegsführung und der Propaganda. Russlands Topmanager haben zwar wenig mitzusprechen, aber weil sie sich für den Krieg einspannen lassen, sind sie letztlich politisch – und deshalb aus meiner Sicht auch Oligarchen.
Und was im Großen geschieht, passiert im Kleinen überall im Land: Kaum erregt eine Firma das Interesse eines höheren Mitarbeiters des Inlandsgeheimdienstes FSB, wird ein Vorwand erfunden, um den Unternehmer vor Gericht zu ziehen – und dort gehen 99 Prozent aller Fälle zu Ungunsten des Angeklagten aus. Russland ist ein krimineller Staat, der unzähligen normalen Menschen ihr Eigentum abnimmt. Unternehmer werden noch mehr verfolgt als politische Widersacher. Man kann daher von einem Mafiastaat sprechen, der Staat ist die Mafia, sie existiert nicht parallel zum Staat.

Putins Zukunft könnte sich am Ausgang seines Krieges gegen die Ukraine entscheiden. Was treibt ihn? Ist er schlicht auf einem Beutezug, handelt es sich um klassischen Imperialismus oder will er wieder eine UdSSR aufbauen, deren Zerfall er ja einmal als die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet hat?
Putin war zwar im sowjetischen Geheimdienst KGB, aber er war nie Kommunist. Er wirft Lenin und Stalin vor, dass sie mit dem Friedensvertrag von Brest-Litowsk im Jahr 1918 Gebietsabtretungen zugestimmt haben. Auch lastet er ihnen an, dass sie eine Verfassung erlassen haben, die allen Sowjetrepubliken ein Austrittsrecht aus der gemeinsamen Union eröffnete. Zwar hatte die Verfassung unter Stalin keine Aussicht auf Umsetzung, aber als die UdSSR sich unter Gorbatschow in einer Wirtschaftskrise befand, verabschiedeten sich die Sowjetrepubliken, zumal ihre Interessen jahrzehntelang von Moskau unterdrückt worden waren. Putin haderte so sehr mit Gorbatschow, dass er ihm sogar ein Staatsbegräbnis verweigerte.
Der Anspruch, das alte Zarenreich wieder herzustellen, wird in Moskau offen formuliert, etwa von Wladislaw Surkow, dem Putin-Vertrauten und Architekten des Ukraine-Krieges. Solche Worte muss der Westen ernst nehmen. Belarus ist ja bereits quasi eingemeindet, die Ukraine steht unter Beschuss, ferner gibt es okkupierte Gebiete in Moldau und Georgien, wo Russland jederzeit für Unruhe sorgen kann. Wenn also im Kreml von der Wiederherstellung des Zarenreichs gesprochen wird, muss man das als eine Kriegserklärung etwa an die baltischen Länder und an Polen verstehen.

„Putin könnte selbst eine Niederlage als Halbsieg verkaufen“

Welchen Unterschied macht es für Russlands Zukunft, ob Putin den Krieg in der Ukraine gewinnt oder verliert?
So oder so muss es mit seiner Herrschaft nicht vorbei sein. Er könnte selbst eine Niederlage als Halbsieg verkaufen, weshalb er seine Ziele weich formuliert hat. Schon vor Monaten behauptete sein Sprecher, die Ukraine sei bereits erfolgreich entwaffnet worden. Es wird entscheidend sein, welche Auflagen Russland im Falle eines Friedensschlusses erfüllen muss: Wird es etwa die Krim entwaffnen und alle seine Militärstützpunkte demontieren müssen? Für den Westen und für die Ukraine werden solche Auflagen extrem wichtig sein, aber was dann innerhalb der russischen Führungsclique passiert, darauf hat der Westen kaum Einfluss. Denn was auch immer geschieht: Russland wird keine demokratische Entwicklung einschlagen. Die Opposition befindet sich im Ausland, ist schwach, nicht vereint und alt. Nur Alexei Nawalny hätte vielleicht die nötige Energie, aber dessen Gefängnisschicksal ist ungewiss. Anders als im Falle Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg wird Russland auch nach einer Niederlage nicht militärisch besetzt und politisch neu organisiert werden. Von wem auch?

Seit 14. Februar im Handel: Sabine Adler: „Was wird aus Russland? Über eine Nation zwischen Krieg und Selbstzerstörung.“ Ch. Links 2024, € 22,–

Könnte Russland zerfallen wie einst die Sowjetunion?
Davor warnt Putin ständig. Es gibt 21 ethnische Republiken, aber Absetzbewegungen kann ich nirgendwo entdecken. Tschetschenien ist zu klein und hängt am Tropf von Moskau, ähnliches gilt für Dagestan und Inguschetien. Den größten Widerspruchsgeist gibt es in Baschkortostan, in Tatarstan schon viel weniger, Kalmückien ist zahlenmäßig viel zu klein. All diese Republiken bilden zudem keine zusammenhängende Fläche und werden keine gemeinsame starke Unabhängigkeitsbewegung gründen können, um der seit Jahrhunderten währenden Ausbeutung zu entfliehen. Zwar gibt es Unmut und allmählich auch ein Bewusstsein dafür, dass Russland noch heute eine Kolonialmacht ist, aber daraus folgt nichts. Trotzdem warnt Putin weiterhin vor solch einem Szenario, zumal er damit Erinnerungen an den Zerfall der Sowjetunion wachhält, der Millionen Menschen in Elend und Armut stürzte. Der Zerfall ist herbeigeredet, aber keine reale Gefahr.

„Sanktionen werden nie zu einem Umschwung in Russland führen“

Wenn man in Russland noch ans Imperium glaubt, heißt das auch, dass die Nation insgesamt in der politischen Ideenwelt des 19. Jahrhunderts gefangen ist?
Fragt man Russen, was sie mit ihrem Land verbinden, ist es immer die Zugehörigkeit zu diesem großen Reich – viel weniger geht es um ein gutes Leben in diesem Imperium. Das ist der Kern dessen, was ich mit russischer Mentalität verbinde. Sanktionen werden daher nie zu einem Umschwung in Russland führen. Dafür ist die Leidensfähigkeit zu hoch. Um die Idee ans Imperium wachzuhalten, erinnert man an dessen Größe, die ständig verteidigt und ausgebaut werden muss. Als äußerer Feind wird der Westen für alles verantwortlich gemacht, vor allem für die Abwendung angeblich befreundeter Staaten wie der Ukraine, Georgien oder Moldau. Dem Imperium geht es um Fläche. Niemand im Kreml hat die Absicht, aus der Ukraine eine blühende Landschaft zu machen. So etwas geschieht nicht einmal im eigenen Land.

Hängt mit der politischen Mentalität auch zusammen, dass vielen Russen so etwas wie Scham oder ein schlechtes Gewissen wegen des Angriffskrieges fehlt? Jedenfalls ist davon öffentlich wenig zu merken.
Den Russen ist schon bewusst, dass sie in der Welt geächtet sind, jedenfalls im Westen, aber sie können es erfolgreich verdrängen. Stattdessen trösten sie sich mit dem sogenannten globalen Süden, oder mit Kontakten zu „Schurkenstaaten“ wie Iran, Syrien, Nordkorea. So kann man noch behaupten, man sei nicht international isoliert. Dass da viel Selbstbetrug dabei ist, wissen die Russen durchaus. Aber als ein Land mit großer Bevölkerung sind sie sehr mit sich selbst beschäftigt und blicken gerne nach innen.

„Jelzins Anteil am Untergang der Sowjetunion war viel größer als Gorbatschows“

Sie kennen Russland seit Jahrzehnten. Wie hat sich Ihr Blick auf das Land verändert?
Als ich das erste Mal in Russland war, während der Perestroika in den 1980er-Jahren, hofften viele auf den großen Schub, die Modernisierung, den Anschluss an den Westen. Aber die sogenannten demokratischen Kräfte haben die Gunst der Stunde vergeigt. Ich bin wirklich verblüfft, dass man in Russland so wütend auf Gorbatschow ist. Jelzins Anteil am Untergang der Sowjetunion war viel größer. Er hat den Zerfall betrieben, Gorbatschow wollte die Union erhalten. Unter Jelzin wurden zwar demokratische Gesetze erlassen, aber er selbst und seine Familie haben sich überhaupt nicht daran gehalten. Jelzin agierte eher kriminell als demokratisch. Ich war damals sehr viel in Russland und habe erlebt, wie groß die Enttäuschung darüber war, dass man es nicht hinkriegt. Als dann Putin an die Macht kam, lief alles in die falsche Richtung. Mir tut das leid, weil Russland ein blühendes Land sein könnte. Stattdessen herrscht überall Gewalt. In der Gesellschaft regiert das Gesetz des Stärkeren. Stärke gilt als etwas Positives und eben nicht als etwas Unzivilisiertes, das man bestenfalls wohldosiert einsetzt. Es macht mir Angst, welche Gefahr von diesem Land ausgeht. Die Eroberungshysterie kann nur von außen gestoppt werden – von den angegriffenen Ländern und den sie unterstützenden Bündnissen. Das ist die schlechte Botschaft.

 

Neugierig geworden? Dieses Interview ist die längere Version des Gesprächs mit Sabine Adler aus unserer aktuellen G/GESCHICHTE-Ausgabe „Russlands Imperium. Der ewige Hunger nach Land“, Heft 2/2024.