« zurück

Chomeinis bedrängte Erben

Die Proteste im Iran reißen nicht ab. Vor zwei Monaten starb Mahsa Amini nach der Festnahme durch die Sittenpolizei. Seitdem fordern die Menschen auf den Straßen der Islamischen Republik einen Systemwechsel. Schon lange brodelt es im Land des Nahen Ostens.

von Christoph Driessen

Qasem Soleimani (li.) mit dem iranischen „Religionsführer“ und „Revolutionsführer“ Ali Khamenei, 2019. | Foto: Wikimedia/Khamenei.ir

Rote Feuerbälle steigen am 3. Januar 2020 über dem Internationalen Flughafen von Bagdad in den Himmel. Zwei Autos brennen, sie wurden von Raketen zerrissen – abgefeuert von einer amerikanischen Drohne. Unter den Toten ist der militärische Chefstratege des Iran, Qasem Soleimani. Der General kommandierte die Eliteeinheit der iranischen Revolutionsgarden. In vielen Ländern hat er bewaffnete Gruppen aufgebaut, die für den Iran kämpfen. Aus Sicht der USA war er einer der gefährlichsten Männer der Welt. Den Auftrag zu seiner Eliminierung hat wenige Stunden zuvor Präsident Donald Trump gegeben.

Nach der Revolution von 1979 krempelt Chomeini das Land rücksichtslos um

Chomeinis Ankunft am 1. Februar 1979. | Foto: Wikimedia

Rückblende: 1. Februar 1979. 14 Jahre lang hat Ruhollah Chomeini auf seine Heimkehr in den Iran gewartet. Jetzt schreitet er, gestützt auf einen Steward, die Gangway hinunter. Das Bild geht um die Welt. Schah Mohammad Reza Pahlavi hat sich zu diesem Zeitpunkt schon ins Exil abgesetzt. Die Opposition gegen ihn reichte zuletzt von islamischen Fundamentalisten bis zu marxistischen Guerillagruppen. Nach der Vertreibung des Autokraten erhoffen sich alle eine Beteiligung an der Macht, doch noch auf dem Flughafen stellt Chomeini klar: „Ich werde die neue Regierung bestimmen!“ Was das bedeutet, soll bald klar werden.

Binnen weniger Wochen ändert sich das Leben im Iran radikal. Auf den Straßen Teherans, wo man bis dahin junge Frauen mit offenem schulterlangem Haar, Minirock oder Jeans gesehen hat, gibt es plötzlich nur noch Frauen mit Kopftuch und in wallenden Gewändern. Aus den Bibliotheken verschwinden ­Bücher mit „antiislamischen Tendenzen“, westlich ausgebildete Juristen werden durch islamische Rechtsgelehrte ersetzt. Bei dieser „Islamischen Revolution“ hat Chomeini die Volksmassen allem Anschein nach hinter sich. Wo immer er auftritt, wird er von Hunderttausenden bejubelt. Bauern, Slumbewohner und Teile des Kleinbürgertums sehen in ihm den gottgesandten Erlöser, der Iran zu alter Größe zurückführen und sie selbst aus dem Elend befreien soll.

Vor allem Letzteres hat für ihn aber keine Priorität. Chomeinis wichtigste Überzeugung ist die, dass religiöse und weltliche Herrschaft wie zu Lebzeiten Mohammeds im 7. Jahrhundert in einer Hand vereint sein müssen. Gott hat dem Menschen demnach ein für allemal vorgegeben, wie er sich zu verhalten hat. Es bleibt höchstens die Frage, wie diese oder jene Stelle im Koran zu interpretieren ist. Das kann kein weltlicher Politiker leisten, sondern nur ein besonders ­befähigter Geistlicher. Ein solcher muss folglich als höchste religiöse und politische Instanz an der Spitze des Staates stehen.

So errichtet der Mann mit den durchdringenden schwarzen Augen die Islamische Republik Iran. Bis zu seinem Tod 1989 ist Chomeini selbst der mit uneingeschränkter Macht ausgestattete „Oberste Führer“ und „Revolutionsführer“. Am Tag nach seinem Tod wird sein Gefolgsmann Ali Chamenei in das Amt gewählt, das dieser bis heute innehat. Gewählt wird Chamenei vom Expertenrat, dessen Mitglieder ­wiederum vom Wächterrat bestimmt ­werden. Dieser Wächterrat ist die nach dem Revolutionsführer mächtigste Instanz der iranischen Theokratie. Er besteht aus sechs Geistlichen und sechs Juristen und ist eine Art islamisches Politbüro. Der Wächterrat kann gegen alles, was im Staat vor sich geht, sein Veto einlegen.

Wer in den Augen des Revolutionsführers nicht systemtreu ist, wird verfolgt

Man könnte von einer lupenreinen islamischen Diktatur sprechen, zumal all diejenigen, die in den Augen des Revolutionsführers nicht systemtreu sind, gnadenlos verfolgt, eingekerkert und zu Tausenden hingerichtet werden. Dennoch gibt es im Iran – anders als etwa in Saudi-Arabien – demokratische Elemente. Das nach der Verfassung zweithöchste Amt ist das des Staatspräsidenten, der vom Volk gewählt wird. Allerdings stehen nur vom Wächterrat zugelassene Kandidaten zur Wahl. Auch das Parlament wird gewählt, wobei die Kandidaten ebenfalls vom Wächterrat vorsortiert werden – so wie er auch alle Gesetze absegnen muss. Dennoch bringen die Wahlen öfters Überraschungen. 1997 wird beispielsweise der Reformer Mohammad Chātami zum Präsidenten ­gewählt und nicht der Wunschkandidat von Revolutionsführer Chamenei. Chātami fährt ­einen vorsichtigen Kurs der Liberalisierung, ­lockert etwa die Pressezensur. Bereits zu Chomeinis Zeiten hatte das Kulturleben, vor allem Film und Literatur, einen großen Aufschwung genommen. Eine andere Tatsache, die im Westen vielfach unbekannt ist: Fast die Hälfte aller Studienplätze an den iranischen Universitäten werden heute von Frauen besetzt.

Hassan Rohani war von 2013 bis 2021 iranischer Präsident der Islamischen Republik Iran. | Foto: Wikimedia

Alle Reformer und Gemäßigte – darunter Hassan Rohani – stoßen jedoch an enge Grenzen. Denn letztlich liegt die Macht beim Revolutionsführer, dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, der Geheimdienste und der Revolutionsgarden. Diese paramilitärische Organisation kontrolliert wie eine ­Mafia weite Teile der Wirtschaft und übt einen Einfluss aus, der mittlerweile sogar dem „Obersten Führer“ Chamenei zu weit gehen soll.

Außenpolitisch hat der Iran einen spektakulären Aufstieg hinter sich, was 1979 noch in keiner Weise absehbar war. Im Westen ­rechnete man damals damit, dass der „Gottesstaat“ an inneren Konflikten zerbrechen würde. 1980 spekuliert darauf auch der irakische Staatschef Saddam Hussein, als er das Nachbarland überfällt. Es geht ihm um Öl- und Gasvorkommen und den Aufstieg zur regionalen Führungsmacht. Die USA, Großbritannien, Frankreich und Deutschland sowie die Sowjetunion beliefern Saddam mit Waffen. Sie alle glauben, der säkular orientierte Diktator werde ihnen eine preisgünstige Ölversorgung garantieren und ein Bollwerk gegen den Islamismus aufwerfen.

Im Iran-Irak-Krieg werden zehntausende Kinder in den Märtyrertod geschickt

Doch die schlecht ausgerüsteten, aber hoch motivierten Iraner schlagen die Iraker zurück. Junge Männer suchen und finden ­massenhaft den Märtyrertod. Vor ihren Angriffswellen schickt die iranische Führung zehntausende Kinder auf das Schlachtfeld, die auf die dort versteckten irakischen Minen treten, zerfetzt werden und so den Weg für die Soldaten frei machen. Die Kinder tragen dabei aus Taiwan importierte Plastikschlüssel um den Hals, damit sie die Paradiespforte aufschließen können.

Der äußere Feind kommt Chomeini wie gerufen: Er kann sein Regime stabilisieren. Denn der Krieg liefert ihm einen Vorwand, um noch brutaler gegen Oppositionelle vorzugehen. 1988 beenden beide Staaten den Krieg aus Erschöpfung. Während sich der Iran danach erholt, gerät der Irak durch seine Annexion Kuwaits in einen Konflikt mit den USA. Der Golfkrieg von 2003 endet mit Saddams Sturz und einer massiven Destabilisierung, die den Irak als machtpolitische Größe ausschaltet. (In ähnlicher Weise zerfiel seit 2011 das multireligiöse Syrien.)

Zurück bleiben drei Rivalen um die Vorherrschaft im Nahen Osten: der schiitische Iran, die überwiegend sunnitische Türkei und das radikal­sunnitische Saudi-Arabien, einer der ­repressivsten Staaten der Welt – und enger Verbündeter des Westens. Der gewachsene Einfluss erfüllt viele Iraner, auch eher liberal eingestellte, mit Stolz. Sie begreifen ihr Land als Schutzmacht aller Schiiten, die in der islamischen Welt insgesamt in der Minderheit sind.

Als 2015 während der Amtszeit von US-Präsident Barack Obama die Wiener Atomvereinbarung abgeschlossen wird, hoffen viele Iraner auf einen Wirtschaftsaufschwung und eine politische Öffnung. Das spiegelt sich in einer ­hohen Beteiligung und einem Erfolg der Reformer bei der Parlamentswahl 2016 wider. Seit Chomeinis Revolution hat sich die Bevölkerung des Iran von 40 auf mehr als 80 Millionen verdoppelt. Das Durchschnittsalter liegt jetzt bei unter 28 Jahren (in Deutschland bei 46). Millionen junger Iraner hoffen auf eine bessere Zukunft. Doch sie werden enttäuscht: Korruption, eine schwerfällige Bürokratie und ausbleibende Sozialreformen behinderten das Wachstum, zudem lockern die USA ihre Sanktionen nur langsam.

Die Hardliner mögen triumphieren, aber die Mehrheit ist nicht fundamentalistisch

Donald Trump, 2017 bis 2021 der Präsident der Vereinigten Staaten. | Foto: Wikimedia/Michael Vadon

Und dann steigt Donald Trump 2018 aus dem angeblich „schlechtesten Deal aller Zeiten“ aus, was im Iran zu einer Rezession führt. Die nationale Währung Rial verliert dramatisch an Wert, die Arbeitslosigkeit, auch bei qualifizierten Jugendlichen, schnellt hoch und die Mittelschicht löst sich nahezu auf. Heute gibt es fast nur Arme und Superreiche. Viele ­glauben nicht mehr an die Reformfähigkeit des Systems. Dementsprechend gering fällt die Beteiligung an der Parlamentswahl im Februar 2020 aus, die von reformorientierten Iranern boykottiert wird. Der Triumph der Hardliner sollte nicht zu dem Schluss verleiten, dass die Mehrheit der Iraner einen fundamentalistischen Kurs unterstützt. Davon zeugen häufige Proteste, die zuweilen landesweit stattfinden, etwa im November 2019, als die Benzinpreise drastisch angehoben wurden. Oder 2020 nach dem versehentlichen Abschuss einer ukrainischen Passagiermaschine durch das Militär, was die Regierung zunächst auch noch leugnete. Während Rohani seine Sympathien verspielt, riskieren die Demonstranten ihr Leben: Ihre Kundgebungen werden brutal unterdrückt, damals wie heute.

So steht die Führung des Irans, der in der Corona-Krise zu den am stärksten betroffenen Ländern der Welt zählt, mit dem Rücken zur Wand – was sie unberechenbar macht. ­Teheran will einen offenen, aussichtslosen Krieg mit den USA vermeiden, wie sich in der Reaktion auf die Tötung Soleimanis zeigt: Als Vergeltung werden nur zwei von den Amerikanern genutzte Militärstützpunkte im Irak beschossen, ­wobei kaum jemand zu Schaden kommt. Stattdessen setzt die Führung womöglich auf Terrorattacken oder Cyberangriffe. Vor allem droht sie damit, die Straße von Hormus im Persischen Golf zu blockieren. Durch die Meerenge wird fast ein Drittel des globalen Ölexports verschifft.

Dass der Hardliner Ali Chamenei ein neues Atomabkommen mit dem Westen aushandeln könnte, gilt als unwahrscheinlich. Vorstellbar ist eher eine explosive Verkettung von Ereignissen, die eine fatale Eigendynamik entfalten. Ein friedlicher Ausweg ist nicht in Sicht – weder außenpolitisch noch innenpolitisch.

 

Der Text stammt aus unserem G/GESCHICHTE-Heft 5/2020 „Das Rätsel der Nibelungen“. Weitere Infos zur Ausgabe hier, bestellbar hier.