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Vom Klassenfeind inspiriert

Was macht ein Sowjetkünstler, dem die Ideen ausgehen? Er schaut nach Westen, direkt ins Herz des Absolutismus. Wir bei G/GESCHICHTE kommen ihm Jahrzehnte später drauf.

von Christiane Schlüter

Kennen Sie Déjà-vus? Dieses merkwürdige Gefühl, man habe eine bestimmte Sache so oder ähnlich schon einmal gesehen – wenn man nur wüsste, wann und wo? Solch ein Déjà-vu-Gefühl hatten wir in der G/GESCHICHTE-Redaktion bei der Arbeit an unserem aktuellen Stalin-Sonderheft. Auf Seite 74 bilden wir darin ein Gemälde ab: „Die Verherrlichung Stalins“, 1950 gemalt von dem damals 33-jährigen Sowjetkünstler Yuri Kugach. Er hatte das Bild sorgfältig komponiert: Stalin steht in einem pompösen Treppenhaus auf der obersten Treppenstufe. Um ihn herum und auf den unteren Stufen drängen sich Politgrößen und Vertreter des Sowjetvolkes, sie klatschen in die Hände und jubeln dem Diktator zu.

Solch ein Treppenhaus kennen wir doch…

Wo hatten wir solch ein Treppenhaus nur schon gesehen? Wir rätselten, bis eine Kollegin das Bourbonen-Heft (G/GESCHICHTE 2/2020) aufschlug: Auf Seite 14/15 war genau solch ein Treppenhaus zu sehen, 1878 vom französischen Historienmaler Jean-Léon Gérôme geschaffen. Nur dass hier oberhalb der Treppe Ludwig XIV. stand, der Sonnenkönig, und anstelle der Sowjetvölker huldigten ihm die Höflinge von Versailles.

Links ein Ausschnitt aus unserem aktuellen Stalin-Porträt, rechts aus unserem Bourbonen-Heft. Zum Vergrößern auf das Bild klicken. | © Bayard Media

Erwischt! Da hatte sich also der Sowjetmaler Inspirationen bei seinem französischen Kollegen geholt, über historische und ideologische Grenzen hinweg! Ob Stalin das gewusst hatte? Aber, so sagten wir uns, die künstlerische Anleihe besaß durchaus eine innere Logik: Hat doch der blutrünstige Sowjetherrscher des Sonnenkönigs Ausspruch „Der Staat bin ich“ in grausamster Weise auf die Spitze getrieben.