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„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“

Mehr als 28 Jahre lang teilt eine Mauer Berlin. Die deutsch-deutsche Grenze riegelt den Osten ab und wird zum Grab für mehr als 130 Flüchtlinge. Der Westen schaut dabei zu.

von Janina Lingenberg

Schüsse zerschneiden an diesem Sommertag die Luft. Eigentlich wollte Peter Fechter nur in die Freiheit, aber was er an der Mauer findet, ist der Tod. Der Maurer hatte mit einem Freund beschlossen, am frühen Nachmittag des 17. August 1962 über die Zimmerstraße nach Westberlin zu fliehen. Hier in der Nähe des Checkpoint Charlie hatte er geholfen, die steinerne Grenze zu errichten. Sie steht nun seit etwa einem Jahr.

Von 35 Schüssen trifft nur ein einziger den 18-Jährigen. Aber dieser ist tödlich. Peter Fechter verblutet. 50 quälende Minuten liegt er mit dem Rücken zur Mauer und ruft: „Helft mir doch, helft mir doch!“ Aber niemand hilft. Die Schreie durchziehen die Straßen, dringen in die Höfe, klettern in die Wohnungen. Die Volkspolizisten (Vopos) tun nichts, sie sind ratlos und haben Angst vor Kugeln aus dem Westen. Immer mehr Passanten kommen heran. Im Westen fordern sie die amerikanischen Soldaten auf zu helfen, aber auch sie befolgen Befehle. Westdeutsche Polizisten werfen Verbandsmaterial hinüber. Als vier Grenzer den Sterbenden wegtragen, begleiten sie „Mörder“-Rufe. Im Krankenhaus stirbt Peter Fechter.

An der Berliner Mauer fanden viele DDR-Flüchtlinge den Tod. | Symbolfoto © istockphoto.com/Frank-Andree

Zum ersten Mal demonstrieren die Westberliner gegen ihre Befreier

In ihrer Wut, die sich in dieser Nacht ihren Weg bahnt, demonstrieren die Westberliner erstmals gegen ihre Befreier und wollen die Grenze stürmen, doch die Staatsmacht hält sie zurück. Niemand wird diese Ungerechtigkeit, die sich Mauer nennt, niederreißen. Diese Realität bezwingt die Berliner nun auf beiden Seiten: Die Mauer steht. Menschen, die das nicht akzeptieren, werden sterben. Die vier Mächte, die nach dem Zweiten Weltkrieg Berlin in Sektoren aufgeteilt haben, werden keinen neuen Krieg provozieren. Und Peter Fechter symbolisiert das alles.

In einer ähnlichen Sommernacht ein Jahr zuvor lässt ein Befehl Grenzsoldaten und Vopos ausrücken: „Die Übergänge rund um Westberlin verriegeln“ heißt er. An diesem 13. August 1961 erlischt um 1.05 Uhr das Licht am Brandenburger Tor, um den Aufmarsch zu verdunkeln. Meter um Meter ziehen sie Stacheldraht. Später brechen sie mit Vorschlaghämmern die Straßen auf, graben Löcher in die Erde, um Betonpfosten aufzustellen und um zwischen ihnen Stacheldraht zu spannen. Arbeiter heben Betonplatten von Lkw, während die bewaffneten Bewacher patrouillieren. Eigentlich ist morgen Montag, da müssen die Grenzgänger wieder zur Arbeit in den Westen. Doch Ostberlin ist ab jetzt abgeriegelt. Entlang der russischen Sektorgrenze entsteht auf 43,7 Kilometer ein „antifaschistischer Schutzwall“, der die DDR Bürger schützen soll – vor Provokationen, Sabotage und Menschenhandel des Westens.

Bundesarchiv-Bild Walter Ulbricht

„Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“ – DDR-Staatsratschef Walter Ulbricht (hier auf einem Archivfoto von 1950) sprach diese berühmten Worte am 15. Juni 1961. Eine Lüge, wie sich wenige Wochen später herausstellte. | © Bundesarchiv/Bild 183-08618-0005/Horst Sturm/CC-BY-SA 3.0

Der Bau ist nötig geworden, weil seit 1949 2,5 Millionen Menschen „rübergemacht“ haben. Allein im Sommer 1961 fliehen täglich bis zu 2400 Frauen, Männer und Kinder. Die DDR blutet aus. Vor allem Ingenieure, Akademiker und andere Fachkräfte sind nicht zu halten. Daher soll die Mauer Sicherheit und Sicherung bringen. Dabei hat Walter Ulbricht noch am 15. Juni 1961 gesagt: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.“ Obwohl eine derartige Lösung schon länger in Betracht kam. Was war die Alternative? Einem Friedensvertrag, der Berlin zur „Freien Stadt“ erhebt, der die Sektoren auflöst und der die Truppen vertreibt, konnte US-Präsident John F. Kennedy nicht zustimmen. Westberlin sollte frei zugänglich bleiben. Am 25. Juli sagt er in einer Rundfunkansprache: „Die unmittelbare Bedrohung der freien Menschen liegt in Westberlin.“

Allerdings ist in seiner Rede die Teilung kein Thema. Bleibt der Westen frei, ist es der Osten ebenfalls – und zwar in seiner Entscheidung für einen Mauerbau. Die Alliierten akzeptieren damit die Realität. Die Berliner dagegen können den 13. August nicht begreifen und fühlen sich alleingelassen. Auch ihr Regierender Bürgermeister Willy Brandt ist schockiert: „Die Betonpfeiler, der Stacheldraht, die Todesstreifen, die Wachtürme und die Maschinenpistolen, das sind die Kennzeichen eines Konzentrationslagers.“ Er fordert die „Nichtstuer“, die Bundesregierung und den amerikanischen Präsidenten auf, endlich zu handeln.

Verlobte, Eltern und Kinder werden brutal auseinandergerissen

Währenddessen stehen sich Familien am Stacheldraht gegenüber, weinen und winken mit ihren Taschentüchern leise Abschied. Verlobte kommen nicht wieder zusammen. Väter und Mütter verlieren ihre Kinder. Sie geben sich aus den Häusern Zeichen per Spiegel. Klettern auf Steine, die sie aufgetürmt haben, um hinübersehen zu können. Manche von ihnen rennen plötzlich los, fallen, bleiben am Stacheldraht hängen. Sie flüchten. In der Bernauer Straße springen Menschen aus Fenstern, denn der Bürgersteig unter ihnen liegt in einem anderen, freieren Land. Unter den Springern in der Bernauer Straße ist die erste Tote: Ida Siekmann stirbt am 22. August 1961. Sie ist wie Peter Fechter eine von etwa 136 Mauertoten. Der letzte Name auf dieser grausamen Liste lautet Winfried Freudenberg, der am 8. März 1989 mit seinem Ballon abstürzt.

Conrad Schumann springt über den Stacheldrahtzaun in den Westen

Conrad Schumann, damals in der Volksarmee, sprang zwei Tage nach dem Bau der Mauer über Stacheldraht in den Westen. Das Foto ging um die Welt. | © The Central Intelligence Agency/East German Guard

 

Wer flüchten will, braucht zunehmend Einfallsreichtum, denn die Grenze baut „Projektleiter“ Erich Honecker bis zur perfiden Perfektion aus: Bald ersetzt Beton den Stacheldraht. Häuser, wie die der Bernauer Straße, werden geräumt, zugemauert und später abgerissen. Der „Schutzwall“ wächst: Metallgitterzaun, Kolonnenweg für Grenzer, Überwachungstürme, Hundelaufanlagen, Kraftfahrzeugsperrgraben, geharkter Kontrollstreifen, Signalzaun, Minenfeld und zuletzt die Stahlbetonmauer, die von Westen her bunt bemalt ist. Ein Todesstreifen braucht Platz und der Grenzsoldat freies Schussfeld, denn er hat einen – wenn auch zunächst nur mündlichen – Befehl: »Grenzverletzer vernichten«. Verteidigungsminister Heinz Hoffmann sagt: „Wer die Grenze nicht respektiert, bekommt die Kugel zu spüren. Und wenn wir schießen, dient das dem menschlichsten Ziel zu verhindern, dass in einem Krieg Deutsche gegen Deutsche schießen müssen!“

40 101 gelungene Fluchten über die Innerdeutsche Grenze, circa 178 000 Flüchtlinge über Drittländer, 1720 Tote insgesamt, etwa 75 000 Festnahmen: Hauptsache raus! Ob mit einem Ballon fahrend, schwebend am Drahtseil, schwimmend durch das Wasser, kriechend durch Tunnel oder zusammengekauert in Fahrzeugen – der Wille nach Freiheit eint die geteilte Nation. In Westdeutschland organisieren sich Flüchtlingshelfer, die beginnen, wie Maulwürfe den Boden zu durchgraben. Einer von ihnen ist Joachim Rudolph. Er selbst floh in der Nacht vom 28. zum 29. September 1961 über das Tegeler Fließ: „Ich habe keine Perspektive mehr für mich in der DDR gesehen. Ich war damals 22 Jahre alt und konnte und wollte mir nicht vorstellen, den Rest meines Lebens in diesem unfreien, diktatorisch regierten Staat DDR zu verbringen“, sagt er G/GESCHICHTE im Interview.

Flucht aus der DDR durch Tunnel

Tödliche Grenze aus Stacheldraht und Todesstreifen: Einige versuchten mithilfe eines Tunnels aus der DDR zu fliehen. | © istockphoto.com/Naeblys

Heute verschmelzen Luxuswohnungen mit der Mauer

Beim Studium an der Technischen Universität Berlin lernt er Kommilitonen kennen, die unter der Bernauer Straße einen 120 Meter langen Tunnel nach Ostberlin planen. Etwa 30 Personen beteiligen sich und sind am 14. September 1962 am Ziel: Als Erstes durchkriecht Joachim Rudolphs spätere Frau den Tunnel. Insgesamt 29 Menschen gelingt die Flucht. Sie geben „Tunnel 29“ seinen Namen, der durch die Originalaufnahmen der NBC weltberühmt wird. Warum tat Joachim Rudolph das? „Diese Fragen sind für mich leicht zu beantworten“, sagt der Fluchthelfer. „Ich habe mich selbst ja auch trotz der Risiken zur Flucht aus der DDR entschlossen. Das war keine leichte und keine spontane Entscheidung. Und da ich mir deshalb sehr gut vorstellen konnte, in welcher Situation sich Menschen befinden, die mit ihrem Fluchtversuch noch länger gezögert hatten, waren mein Freund und ich gern bereit, noch einmal die Risiken auf uns zu nehmen. Wir sahen es als unsere moralische Pflicht zu helfen […]. Und ein weiteres Motiv war, den Staat der DDR auf diese Art und Weise zu schädigen und zu bekämpfen.“ Joachim Rudolph arbeitete auch an weiteren Tunnel mit.

Wer heute die Mauer sucht, findet sie symbolisiert durch zwei Pflastersteinreihen, die sich quer durch die Stadt ziehen, oder als Museumsobjekt wieder. Teile von der „Ur-Mauer“, also von den ersten Befestigungen, stehen noch, so wie der Mauerteil bei Schönholz, den Christian Bormann jetzt entdeckte. Aber auch immer mehr verschwindet. An der East Side Gallery sind Baugrundstücke ausgegeben, die es erlauben, Mauerteile herauszunehmen und zu versetzen. Luxuswohnungen verschmelzen dann mit dem antifaschistischen Schutzwall. Die Berliner Mauer ist inzwischen länger Vergangenheit, als dass sie stand.

 


Dieser Artikel erschien im Heft G/GESCHICHTE PORTRÄT „Berlin“ (Sommer 2018). Weitere Inhalte der Ausgabe (u.a.):

Gregor Gysi im Interview: Über seine Jugend in der DDR und wie er den Mauerfall erlebte
Der Mauerfall: Das Wunder von Berlin
Im Zeichen des Bären: Die Geburt Berlins